Der versäumte Frühling. Hans Scherfig

Der versäumte Frühling - Hans Scherfig


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eines Musterschülers. Aber strebsam. Sehr strebsam.“

      Die Herren lachten. Harald Horn ein bißchen gezwungen und mit rotem Kopf.

      „Und womit beschäftigt sich Jørgensen? In Anbetracht der Entwicklung seines Bauches scheint es nichts Anstrengendes zu sein.“

      „Ich administriere den Staat“, antwortete Jørgensen. „Ich bin, in aller Bescheidenheit, Ministerialrat im Innenministerium.“

      „Das ist sicher eine Arbeit, für die deine Fähigkeiten ausreichen. Im Gegensatz zu Horns Gewerbe. Man las ein bißchen in seiner Doktorarbeit über die Adverbien in Holbergs Episteln. Ein interessantes Thema. Lebenswichtig und bedeutungsvoll.“

      „Es kann schon von einer gewissen Bedeutung sein, wenn man auf diesem Wege dazu beiträgt, Holbergs Dänentum zu beweisen“, rechtfertigte sich Horn.

      „Selbstverständlich. Laßt uns um Gottes willen Holbergs adverbiales Dänentum bis zum letzten Blutstropfen verteidigen! Literaturgeschichte ist sicherlich am besten, wenn sie national ist. Und ein nationaler Literat zu sein macht sich wohl auch besser bezahlt als Ministerialrat?“

      „Bestimmt“, pflichtete ihm Jørgensen bei.

      „Darf der Literat eine Tasse Kaffee oder ein Bier ausgeben?“ erkundigte sich Horn versöhnlich.

      „Für mich bitte Kaffee.“

      „Auch belegte Brote?“

      „Ich ziehe Gebäck vor. Am liebsten eine sogenannte Medaille. Das sind diese runden Törtchen mit Cremefüllung und einem viereckigen Stück Konfitüre obendrauf. Sie werden übrigens auch immer kleiner.“

      „Weißt du eigentlich, Mogensen, daß du nun schon seit fünfundzwanzig Jahren hier auf deinem Stuhl sitzt?“ fragte der Ministerialrat.

      „Gewiß, das weiß man sehr wohl“ – und Mogensen blickte zur Uhr der St.-Petri-Kirche hinauf, die für ihn in all den Jahren die Zeit gemessen hatte. Er rechnete damit, noch mindestens weitere fünfundzwanzig Jahre hier zu sitzen. Er konnte nicht wissen, daß er vier Jahre später auf merkwürdige und unheimliche Weise sterben sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.

      „Du hast also in diesem Jahr Jubiläum“, fuhr Jørgensen fort. „Und insofern haben wir alle Jubiläum. Siehst du, und das ist auch der Grund, weshalb wir gekommen sind – um mit dir darüber zu reden. Wir möchten gern den fünfundzwanzigsten Jahrestag unseres Abiturs festlich begehen. Und wenn du nicht dabei wärst, würde es ja langweilig sein.“

      „Man hält sein Abitur nicht für so wertvoll, daß es Anlaß zu einer Jubelfeier wäre. Und die Erinnerungen an die Schulzeit sind alles andere als angenehm.“

      „Na, na, dieses Examen hat dir schließlich Zutritt zum Frühstücksraum verschafft. Außerdem könnte es doch auch ganz nett sein, die anderen aus der Klasse einmal wiederzusehen und zu erfahren, was aus ihnen geworden ist.“

      „Zu erfahren, was aus ihnen geworden ist, wird ganz gewiß außerordentlich betrüblich sein.“

      „Laß nun gut sein, Mogensen. Wir möchten gern, daß du dabei bist, wenn wir feiern. Und dann hast du auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, deine giftigen Bemerkungen anzubringen.“

      Mogensen bohrte den Teelöffel in die Medaille und kostete nachdenklich von dem viereckigen Stück Konfitüre.

      „Man hat übrigens nicht das Geld, um es für einen solch törichten Zweck auszugeben, und man hat auch nicht die Absicht, sich wie ein Kellner auszustaffieren.“

      „Ja, weißt du“, sagte Jørgensen, „natürlich gibt es einige, die … die also nicht so bemittelt sind … und deshalb haben wir auch … es ist so eine Art Fonds gestiftet worden … verstehst du … du sollst dich also als unser Gast betrachten. Du darfst das nicht als Beleidigung auffassen. Wir waren nur der Meinung … nicht wahr? … Wir sind ja alte Schulkameraden, nicht?“

      „Das ist sehr nobel und mit einem Takt vorgebracht worden, der eines Ministerialbeamten würdig ist. Ihr wollt also für die Zeche der Armen aufkommen. Unglücklicherweise aber wirst du rot und windest dich förmlich vor Verlegenheit, wenn du dieses edelmütige Angebot unterbreitest.“

      „Ach, laß doch das! Wir können also damit rechnen, daß du an unserer Zusammenkunft teilnimmst?“

      „Man wird es sich überlegen.“

      „Nein, dafür ist keine Zeit mehr. Die Gedecke müssen noch heute bestellt werden. Zum Teufel, wir wollen dich dabei haben, Mogensen! Wir können dich einfach nicht entbehren.“

      „Man hat zumindest nicht die Absicht, sich Kellnergarderobe anzuziehen. Übrigens besitzt man auch gar nicht so eine Uniform. Aber vielleicht gibt es auch eine Stiftung, die für die Leihgebühren eines Fracks für die Unbemittelten aufkommt?“

      „Das ließe sich gut machen. Ich wollte gerade sagen, daß in der Gothersgade ein Geschäft ist, wo man …“

      „Danke. Aber man will nicht. Man ist nicht so närrisch, sich auszustaffieren. Falls man an eurem Fest teilnehmen sollte, kommt man in seinen eigenen Sachen.“

      „Das ist doch völlig gleichgültig. Komm nur so, wie du bist. Hauptsache, du kommst.“

      „Gut, so wird man kommen. Holt mich ab, wenn hier geschlossen wird.“

      „Du wirst doch wohl selbst dorthin finden. Es ist …“

      „Man interessiert sich nicht für Entdeckungsreisen.“

      „Na schön, dann wirst du abgeholt.“

      Und die Herren verabschiedeten sich und verließen den Frühstücksraum, während Mogensen aufstand, um sich am Büfett noch einen Kaffee zu holen.

      8. Kapitel

      Oberlehrer Axel Nielsen hatte mehr Grund als irgendein anderer, das Abiturjubiläum zu feiern.

      Er war nun an derselben Schule angestellt, an der er sein Abitur gemacht hatte. Genau wie vor fast einem Menschenalter betrat er jeden Morgen kurz vor neun seine alte Schule. Und genau wie damals hatte er Angst, zu spät zu kommen, und auch sein Respekt vor dem Rektor war noch genausogroß.

      Sein Leben war ein einziger Gang zur Schule gewesen. Nur ganz schwach konnte er sich an eine Zeit erinnern, da er nicht zur Schule gegangen war. Eine undeutliche Erinnerung an eine ferne, ferne Vergangenheit. Er spielte draußen in Nørrebro in einem Hof. Und da waren auch andere Kinder, mit denen er spielte. Damals wußte er noch nicht, daß sie nicht so fein waren wie er.

      Sein Vater war ein braver Handwerksmeister, der es sich leisten konnte, seinem Sohn eine gute Bildung angedeihen zu lassen. Axels Spielgefährten waren Arbeiterkinder. Daß es zwischen ihnen einen Klassenunterschied gab, zeigte sich erst, als sie eingeschult wurden. Die Spielkameraden kamen in die Volksschule. Axel dagegen kam in eine Schule, für die Schulgeld bezahlt werden mußte. Und damit war zwischen den Kindern eine Grenze gezogen worden.

      Er ging zwölf Jahre lang zur Schule. Und er war folgsam und fleißig und wurde gelobt und machte seinen Eltern Ehre. Die ersten fünf Jahre besuchte er eine Vorbereitungsschule.

      Dann bestand er die schwere Aufnahmeprüfung für die höhere Schule, die sich aus vier Jahren Mittelschule und drei Jahren Gymnasium zusammensetzte. Und Axel war stets fleißig und strebsam und konnte schließlich sogar die Fleißprämie der Schule erringen.

      Aber zwölf Jahre zur Schule zu gehen, das ist eine lange Zeit. Als seine gleichaltrigen Spielkameraden schon arbeiteten und auf eigenen Beinen standen, war er immer noch ein Schuljunge. Wenn sie Feierabend hatten und ein Bier trinken gingen, hatte er Schularbeiten zu machen. Wenn sie Geld verdienten, mit Mädchen ausgingen und sich verlobten, mußte er wegen einer Bemerkung nachsitzen. Wenn sie zu Generalversammlungen und politischen Veranstaltungen gingen und streikten, zitterte er wegen einer schlechten Zensur, die von Vater oder Mutter unterschrieben werden sollte. Als die anderen mit ihren Freundinnen zusammengezogen, mußte er einem Biologielehrer zuhören, der den Gymnasiasten kurz


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