Die Eroberung von Plassans. Emile Zola
kenne sie haargenau, die Rougons; ich hatte ihren Werdegang verfolgt. Das sind Leute, die vor nichts zurückschrecken. Sie waren rasend vor Begierden, daß sie imstande gewesen wären, an einer Waldecke jemand mit dem Messer umzubringen. Der Staatsstreich hatte ihnen geholfen, einen Traum von Genüssen zu befriedigen, der sie seit vierzig Jahren folterte. Deshalb sind sie so gefräßig, deshalb schlagen sie sich so den Magen mit guten Dingen voll! Sehen Sie, dieses Haus, das sie heute bewohnen, gehörte damals einem Herrn Peirotte, einem Steuereinnehmer, der bei der Geschichte in Sainte-Roure während des Aufstandes 1851 getötet wurde. Ja, meiner Treu! Sie haben in jeder Beziehung Glück gehabt. Eine verirrte Kugel hat sie von diesem lästigen Mann befreit, den sie beerbt haben . . . Na schön! Hätte Félicité zwischen dem Haus und dem Amt des Steuereinnehmers zu wählen gehabt, so hätte sie sicherlich das Haus genommen. Seit nahezu zehn Jahren wandte sie kein Auge von ihm ab, war von dem rasenden Gelüst einer schwangeren Frau erfaßt, wurde beim Anblick der reichen Vorhänge krank, die hinter den Fensterscheiben hingen. Das waren ihre Tuilerien, wie es in einer Bemerkung hieß, die nach dem zweiten Dezember in Plassans umlief.“
„Aber woher haben sie das Geld genommen, um das Haus zu kaufen?“
„Ah! Das, mein Bester, ist eine dunkle Geschichte . . . Ihr Sohn Eugéne, der, der in Paris eine so erstaunliche politische Karriere gemacht hat, Abgeordneter, Minister, Geheimer Rat in den Tuilerien, erwirkte für seinen Vater, der hier eine sehr hübsche Posse gespielt hatte, mit Leichtigkeit eine Steuereinnehmerstelle und das Kreuz der Ehrenlegion. Was das Haus anbelangt, so wird es durch Absprachen bezahlt worden sein. Sie werden sich bei irgendeinem Bankier etwas geliehen haben . . . Heute sind sie jedenfalls reich, sie spekulieren, sie holen die verlorene Zeit wieder auf. Ich denke mir, daß ihr Sohn mit ihnen in Briefwechsel geblieben ist, denn sie haben noch nicht eine einzige Dummheit begangen.“ Die Stimme schwieg, um fast sogleich mit ersticktem Lachen fortzufahren: „Nein, ich lache unwillkürlich, wenn ich sehe, wie diese verdammte Grille Félicité ihre Herzoginnenmiene aufsetzt! Ich erinnere mich immer noch an den gelben Salon mit seinem abgenutzten Teppich, seinen schmutzigen Konsolen, dem mit Fliegendreck übersäten Musselin seines kleinen Kronleuchters . . . Da empfängt sie jetzt die beiden Fräulein Rastoil. Je! Wie sie mit der Schleppe ihres Kleides herumwedelt . . . Diese Alte, mein Bester, wird eines Tages mitten in ihrem grünen Salon vor Triumph platzen.“ Abbé Faujas hatte den Kopf behutsam so gedreht, daß er sehen konnte, was in dem großen Salon vor sich ging. Er gewahrte Frau Rougon, die dort inmitten des Kreises, der sie umgab, wahrhaft prächtig wirkte; sie schien auf ihren Zwergenfüßen größer zu werden und alle Rücken rings um sich mit dem Blick einer siegreichen Königin zu beugen. Zuweilen verging sie für Sekunden vor Wonne, wobei ihre Augenlider zuckten im goldenen Widerschein der Decke, in der ernsten Anmut der Wandbespannungen.
„Ah! Da ist Ihr Vater“, sagte die fette Stimme. „Da kommt der gute Doktor herein . . . Es ist sehr seltsam, daß der Doktor Ihnen diese Dinge nicht erzählt hat. Er weiß darüber besser Bescheid als ich.“
„Ach! Mein Vater hat Angst, daß ich ihm Unannehmlichkeiten bereite“, erwiderte der andere heiter. „Sie wissen, daß er mich verwünschte, dabei fluchte, ich brächte ihn um seine Patienten . . . Entschuldigen Sie mich bitte, ich erblicke eben Herrn Maffres Söhne, ich will ihnen die Hand geben.“
Das Rücken von Stühlen war zu hören, und Abbé Faujas sah, wie ein großer junger Mann mit schon müdem Gesicht den kleinen Salon durchquerte. Der andere Herr, der mit den Rougons so munter umgesprungen war, erhob sich gleichfalls. Eine Dame, die vorbeikam, ließ sich von ihm sehr liebliche Dinge sagen, sie lachte, sie nannte ihn „lieber Herr de Condamin“. Da erkannte der Priester den gutaussehenden Mann von sechzig Jahren wieder, den Mouret ihm im Garten der Unterpräfektur gezeigt hatte. Herr de Condamin setzte sich an die andere Ecke des Kamins. Dort war er völlig überrascht, Abbé Faujas zu erblikken, den ihm die Sessellehne verborgen hatte; aber er ließ sich keineswegs aus der Fassung bringen. Er lächelte und sagte mit der Dreistigkeit eines liebenswürdigen Mannes:
„Herr Abbé, ich glaube, daß wir eben gebeichtet haben, ohne es zu wollen . . . Es ist eine große Sünde, nicht wahr, über seinen Nächsten üble Nachrede zu führen? Glücklicherweise waren Sie da, um uns Absolution zu erteilen.“
Sosehr der Abbé auch sein Gesicht in der Gewalt hatte, er konnte nicht verhindern, daß er leicht errötete. Er verstand vortrefflich, daß Herr de Condamin ihm vorwarf, den Atem angehalten zu haben, um zu lauschen. Aber dieser war nicht der Mann, einem Neugierigen zu grollen, im Gegenteil. Er war entzückt über dieses bißchen Mitwisserschaft, das er zwischen dem Priester und sich eben hergestellt hatte. Das berechtigte ihn, ungezwungen zu reden, den Abend mit dem Erzählen von Skandalgeschichten über anwesende Personen totzuschlagen. Das war sein bestes Vergnügen. Dieser in Plassans neu angekommene Abbé schien ihm ein ausgezeichneter Zuhörer zu sein; um so mehr, da er häßlich aussah, aussah wie jemand, der dazu gut ist, alles mit anzuhören, und der eine wahrhaft zu schäbige Soutane trug, als daß die Vertraulichkeiten, die man sich mit ihm erlauben würde, Weiterungen nach sich ziehen könnten.
Nach Verlauf einer Viertelstunde hatte es sich Herr de Condamin bequem gemacht. Mit seiner großen weltmännischen Höflichkeit erklärte er Abbé Faujas Plassans.
„Sie sind fremd unter uns, Herr Abbé“, sagte er. „Es würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen bei irgend etwas nützlich sein könnte . . . Plassans ist eine Kleinstadt, in der man sich mit der Zeit eine Bleibe einrichtet. Ich stamme aus der Umgebung von Dijon. Na ja! Als man mich hier zum Oberforstmeister ernannt hat, verabscheute ich die Gegend, ich fand es hier sterbenslangweilig. Das war am Vorabend des Kaiserreichs. Vor allem nach 1851 hat die Provinz nichts Heiteres gehabt, versichere ich Ihnen. In diesem Departement hatten die Einwohner eine hündische Angst. Der Anblick eines Gendarmen hätte sie unter die Erde kriechen lassen . . . Das hat sich nach und nach beruhigt, sie haben den gewöhnlichen Alltagstrott wiederaufgenommen, und, mein Gott, ich habe mich schließlich darein gefügt. Ich lebe draußen, ich mache lange Spazierritte, ich habe mir einige Verbindungen geschaffen.“ Er senkte die Stimme und fuhr in vertraulichem Ton fort: „Wenn ich Ihnen raten darf, Herr Abbé, seien Sie vorsichtig. Sie können sich nicht vorstellen, in welches Wespennest ich beinahe gefallen wäre . . . Plassans ist in drei völlig unterschiedliche Stadtviertel eingeteilt: die Altstadt, wohin sie nur Tröstungen und Almosen zu bringen haben; das Saint-Marc-Viertel, das der Landadel bewohnt, ein Ort der Langeweile und Rachsucht, dem sie nicht zuviel mißtrauen können; und die Neustadt, das Viertel, das noch jetzt um die Präfektur herum gebaut wird, das einzig mögliche, das einzig passende . . . Ich hatte die Torheit begangen, in das Saint-Marc-Viertel hinunterzuziehen, wohin mich, wie ich glaubte, meine Verbindungen rufen mußten. Oh, jawohl! Ich habe nur Witwen von Stande, dürr wie Bohnenstangen, und in Armut dahinlebende Marquis gefunden. Alle Welt weint der guten alten Zeit nach. Nicht die geringste Geselligkeit, kein noch so kleines Fest; eine heimliche Verschwörung gegen den glücklichen Frieden, in dem wir leben . . . Ich hätte mir beinahe Ungelegenheiten bereitet, mein Ehrenwort. Péqueur hat sich über mich lustig gemacht . . . Herr Péqueur des Saulaies, unser Unterpräfekt, kennen Sie ihn? — Da bin ich über den Cours Sauvaire gezogen, ich habe dort am Platz eine Wohnung genommen. Sehen Sie, in Plassans ist das Volk nicht vorhanden, der Adel ist unverbesserlich; erträglich sind nur einige Emporkömmlinge, reizende Leute, die sich für die Leute von Rang und Würden in große Unkosten stürzen. Unsere kleine Beamtenwelt ist sehr glücklich dran. Wir leben unter uns, wie es uns behagt, ohne uns um die Einwohner zu bekümmern, als ob wir unser Zelt in erobertem Land aufgeschlagen hätten.“ Er lachte vor Behagen, streckte sich noch mehr und hielt seine Fußsohlen gegen die Flamme; darauf nahm er vom Tablett eines Dieners, der gerade vorbeikam, ein Glas Punsch, trank langsam, wobei er Abbé Faujas weiterhin verstohlen von der Seite betrachtete.
Dieser fühlte, daß es die Höflichkeit von ihm erforderte, sich einen Satz einfallen zu lassen.
„Dieses Haus wirkt sehr angenehm“, sagte er, sich halb zum grünen Salon umdrehend, in dem sich die Unterhaltung belebte.
„Ja, ja“, antwortete Herr de Condamin, der dann und wann innehielt, um ein Schlückchen Punsch zu trinken, „die Rougons lassen uns Paris vergessen. Man würde hier niemals meinen, in Plassans zu sein. Das ist der einzige Salon, in dem man sich vergnügt, weil es der einzige ist, in dem alle Meinungen in nahe