Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
dieser Gelegenheit können Sie mir gleich erklären, was Sie über den Begriff Konvergenz wissen.«
»Nicht Ihr Ernst.« Sophie rollte mit den Augen. »Als Konvergenzreaktion wird eine über einen Nerv vermittelte reflektorische Reaktion von Bulbus und Pupille bei Fixierung naher Objekte bezeichnet.«
»Sie bombardieren mich ja geradezu mit Fachbegriffen. Wie sollen unsere Patienten verstehen, wovon Sie sprechen?« Er wandte sich an Jakob. »Oder wissen Sie, was ein Bulbus ist?«
»Bulbus oculi, der Augapfel«, antwortete der Pfleger wie aus der Pistole geschossen. Als ihn der tadelnde Blick des Arztes traf, zuckte er mit den Schultern. »Tut mir leid. Ich bin vom Fach.«
Sophie gluckste vor unterdrücktem Lachen. Ärgerlich drehte sich Matthias zu ihr um.
»Ja, lachen Sie nur! Aber vergessen Sie diese Lektion nicht. Der Chef legt allergrößten Wert auf Transparenz. Die Patienten sollen verstehen, wovon wir sprechen.«
»Aye, aye Captain«, gab Sophie frech zurück.
»Darf ich wieder gehen, wenn die Schulstunde zu Ende ist?«, fragte Jakob.
Kopfschüttelnd konzentrierte sich Dr. Weigand wieder auf seinen Patienten.
»Ganz im Gegenteil, mein lieber Jakob.« Er zog sich einen Hocker heran und setzte sich. »Mit Ihnen fange ich gerade erst an. Die Kollegin Petzold hat mir verraten, dass Sie vorhin Anzeichen von Verwirrung zeigten und Namen verwechselt haben.«
»Kommt Petzold von Petze?«, scherzte Jakob.
Sophie lachte.
»Noment est omen.«
Allmählich wurde Matthias die Sache zu bunt.
»Können wir uns jetzt wieder auf unsere Arbeit konzentrieren?«, fragte er so scharf, dass sie erschrocken die Augen senkte.
»Natürlich. Es tut mir leid.«
Zufrieden mit der Wirkung seiner Worte drehte sich Matthias wieder um.
»Passiert Ihnen das öfter?«, fragte er Jakob.
»Nein. Das war das erste Mal.«
»Und die Probleme mit Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit?«
Jakob rutschte auf der Liege herum. Die Befragung war ihm sichtlich unangenehm.
»Manchmal. Aber das kommt von der vielen Arbeit. Das habe ich Frau Dr. Petzold auch schon gesagt. Typisch Frau, dass sie ausgerechnet das für sich behalten hat.«
Sophie schnitt eine Grimasse, sagte aber nichts. Dr. Weigand dagegen blieb ernst. Er hatte sich inzwischen ganz eigene Gedanken gemacht. Und die waren alles andere als erheiternd.
»Ihre Symptome könnten ein Hinweis auf einen erhöhten Hirndruck sein.« Er sah hinüber zu Sophie. »Wie finden wir das heraus, Kollegin Dr. Petzold?«
»Mit Hilfe einer MRT. Zu Ihrer Erklärung: Magnetresonanztomographie. Und um einer weiteren blöden Frage zuvorzukommen: Dabei handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, das in der medizinischen Diagnostik zur Darstellung von Struktur und Funktion der Organe und Gewebe im Körper eingesetzt wird.«
Dr. Weigand nickte zufrieden.
»Die ›blöde Frage‹ gibt einen Punkt Abzug. Daher verdient Ihre Leistung nur ein ›gut‹. Kümmern Sie sich bitte um die MRT. Und checken Sie die Nierenwerte.«
Jakob hatte dem Gespräch der beiden Ärzte mit wachsender Unruhe gelauscht.
»Augenblick mal. Könnten wir das alles nicht auf morgen verschieben? Ich habe noch jede Menge zu tun heute.«
»Tut mir leid. Daraus wird nichts.« Bedauernd schüttelte Matthias den Kopf und stand auf. »Den Rest schaffen Sie ja sicher selbst, Frau Dr. Petzold. Falls Sie mich brauchen, finden Sie mich auf Station. Also hopp, hopp. An die Arbeit, junge Frau.« Er nickte Jakob zu und verließ das Zimmer.
Die Tür hatte sich noch nicht hinter ihm geschlossen, als Sophie ihm eine lange Nase drehte.
»Hopp, hopp, junge Frau«, schimpfte sie. »Na warte, der alte Mann kann sich warm anziehen.«
Jakob lachte, und sie fuhr zu ihm herum. »Was denn? Finden Sie das etwa komisch?«
Schnell versuchte er, ernst zu werden. Vergeblich.
»Überhaupt nicht. Es ist Ihre Schuld, dass ich lachen muss. Sie sind einfach zu nett, wenn Sie wütend sind. Wahrscheinlich versucht Weigand deshalb, Sie ständig auf die Palme zu bringen.«
Einen Moment lang dachte Sophie über diese Begründung nach. Langsam entspannte sich ihre Miene.
»Wenn das so ist, dann kann er sich noch wärmer anziehen.« Sie zwinkerte Jakob verschwörerisch zu, ehe sie die Bremse der Liege löste und sich mit ihm auf den Weg in die Radiologie machte.
*
»Paulchen, Gott sei Dank. Da bist du ja wieder!« Anna Wolters erleichterter Ausruf hallte bis hinaus auf den Klinikflur. Schnell schloss Daniel die Tür.
»Hat dieser Pfleger Ihnen denn nicht ausgerichtet, dass er wieder aufgetaucht ist?«
Anna wiegte ihren Enkel in den Armen. Sie schüttelte den Kopf.
»Der nette, junge Mann war schon länger nicht mehr hier. Aber Sie dürfen ihm genauso wenig böse sein wie ich Ihnen.« Sie blinzelte Daniel zu. »Er hat furchtbar viel Arbeit.«
Dr. Norden ärgerte sich trotzdem über diese Unzuverlässigkeit. Nur Anna zuliebe ließ er Gnade vor Recht ergehen.
»Paul hat es sich übrigens im Wagen meiner Frau gemütlich gemacht. Deshalb konnten wir ihn nicht finden.«
»Ich wollte zu Mama fahren. Aber dann ist keiner gekommen, und ich bin eingeschlafen«, informiert der Knirps seine Großmutter.
»Keine Angst, die Schlüssel hatte ich abgezogen«, versicherte Felicitas schnell, um nur ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
»Diesem Räuber hätte ich zugetraut, dass er sich auf die Suche danach macht«, gestand Anna Wolter. »Wenn ich Ihnen erzähle, was er schon alles angestellt hat …« Paulchen zappelte in ihren Armen, und sie ließ ihn frei. Er rutschte vom Bett, um sich mit seinem Luftballon zu beschäftigen. »Einmal hat er mit Australien telefoniert. Meine Tochter ist fast in Ohnmacht gefallen, als sie die Rechnung präsentiert bekam. Ein anderes Mal hat sich Paul mit einer ganzen Dose Creme beschmiert. Und gefährlich wurde es, als er den Rasierer seiner Mutter benutzte, um sich die Beine zu rasieren, wie er es bei Carina gesehen hatte. Sie können sich nicht vorstellen, wie das geblutet hat.«
»O doch!«, erwiderte Fee und verzog das Gesicht. »Sogar aus eigener Erfahrung.«
Daniel musterte Frau Wolter mit zweifelnder Miene.
»Und Sie wollen wirklich in diesem Zustand die Verantwortung für den kleinen Satansbraten übernehmen?«, fragte er.
Anna seufzte.
»Ich habe ja keine Wahl. Carina ist noch eine Woche in Zürich. Leider kann mir meine Freundin Petra offenbar auch nicht helfen. Ihr ist schon seit Tagen schlecht, und sie wird gerade von einem Kollegen untersucht.« Sie schickte Daniel Norden einen schüchternen Blick. »Vielleicht kann mir ja Dési hin und wieder ein bisschen unter die Arme greifen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte Felicitas, ehe ihr Mann überhaupt den Mund öffnen konnte. »Wir werden das Kind schon schaukeln.«
Ein ohrenbetäubender Knall ließ die Erwachsenen zusammenzucken. Paul stand in der Ecke, die Fetzen des Luftballons lagen vor ihm auf dem Boden. Er presste die Hände auf die kleinen Ohren und wollte sich ausschütten vor Lachen.
Daniel und Fee tauschten vielsagende Blicke. Schon jetzt war klar, dass die Familie Norden eine aufregende Zeit vor sich hatte, bis Carina Wolter ihren kleinen Wirbelwind wieder abholen würde.
*
Mit Blaulicht fuhr der Notarztwagen