Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg

Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg


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zog Dr. Maria Maurer die Latexhandschuhe von den Händen.

      »Das wurde ja allerhöchste Zeit.« Sie maß die Patientin auf der Liege mit ernstem Blick. »Ihr Blinddarm ist hochgradig entzündet. Wir müssen Sie so schnell wie möglich operieren.« Sie erhob sich vom Hocker und ging zum Telefon.

      »Der Blinddarm?«, wiederholte Petra Lekutat matt. Auf ihren Wangen prangten rote Flecken, die Augen waren glasig. »Ich dachte, den wäre ich längst los.« Sie räusperte sich. »Aber dann war das wohl doch die Gallenblase.«

      Dr. Maurer wählte eine Nummer und wartete.

      »In Ihrem Alter kann man schon einmal den Überblick verlieren«, tröstete sie ihre Patientin. Endlich wurde das Gespräch angenommen. »Regina? Gut, dass ich Sie gleich erwische. Ich brauche einen OP. Am besten so schnell wie möglich. Und ein paar Kollegen. Ist jemand frei?« Sie lauschte in den Hörer und nickte. »Gut. Wir sind in fünf Minuten da.« Sie legte auf, um Petra Lekutat die frohe Botschaft zu überbringen.

      Der Kopf der Patientin lag auf der Seite, ihr Mund stand halb offen.

      »Frau Lekutat?«

      Doch Petra antwortete nicht. Dann ging alles ganz schnell. Dr. Maurer überprüfte die Vitalfunktionen der Patientin und stülpte ihr eine Atemmaske über. Gemeinsam mit einer herbeigerufenen Schwester machten sie sich auf den Weg zum OP.

      Auf halbem Weg kam ihnen Dr. Wiesenstein im Laufschritt entgegen.

      »Ist das die Patientin mit dem Appendix?«, rief er schon von Weitem.

      »Wahrscheinlich ist er inzwischen perforiert. Frau Lektutat ist ohnmächtig geworden. Sie hat hohes Fieber. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«

      Adrian schloss sich dem Transport an.

      »Frau Lekutat?«

      »Ganz recht. Das ist die Mutter unserer Chirurgin.«

      Sie hatten ihr Ziel erreicht. Die automatischen Schiebetüren öffneten sich.

      Im Vorraum des Operationssaals stand Christine Lekutat mit dem Orthopäden Kohler zusammen und unterhielt sich über die gelungene Operation von Paola ­Wiesenstein. Beim Eintreffen der neuen Patientin drehten sich ­beide um.

      Im nächsten Moment schnappte Christine nach Luft. Das Blut sackte ihr in die Beine. Sie schwankte kurz.

      »Mama! Was ist mit ihr?«

      »Blinddarmperforation«, gab Dr. Maurer die gewünschte Auskunft. »Wir müssen uns beeilen, sonst schafft sie es nicht.«

      Christine überlegte nicht lange.

      »Ich übernehme das.« Sie eilte zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf.

      »Was soll das werden, wenn es fertig ist?«, fragte Adrian scharf.

      »Seit wann verstehen Sie kein Deutsch? Ich habe gesagt, dass ich operiere.«

      Christine stellte den Wasserhahn ab und griff nach einem der Handtücher auf dem Stapel. Sie musste zwei Mal nachfassen, ehe sie es erwischte.

      »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Sie waren über drei Stunden im OP. Sie müssen sich ausruhen.«

      »Das ist meine Mutter«, schluchzte Dr. Lekutat auf.

      Wenn Adrian eines nicht leiden konnte, dann waren es Frauentränen.

      »Sie werden Ihre Mutter umbringen, wenn Sie jetzt da reingehen. Das werde ich nicht zulassen.« Er packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Nehmen Sie doch Vernunft an.«

      Christine sah aus, als wollte sie sich losreißen und an ihm vorbei in den Operationssaal stürmen. Doch plötzlich sackte sie in sich zusammen. Ihr Kinn fiel auf die Brust und sie begann, bitterlich zu weinen.

      »Also … also gut«, schluchzte sie. »Aber ich werde assistieren.«

      Adrian rollte mit den Augen und ließ sie los.

      »Nein, verdammt! Ich brauche Leute, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann. Wenn Sie wirklich etwas für Ihre Mutter tun wollen, dann verschwinden Sie jetzt von hier.«

      Christine hob den Kopf. Ihre Tränen hatten die Kontaktlinsen weggespült, und ihr Blick war verschwommen.

      »Das wird ein Nachspiel haben. Ich verspreche es«, drohte sie dem Kittel, der an einem Haken an der Wand hing.

      Adrian war längst im OP verschwunden, um seine Pflicht zu tun und Petra Lekutats Leben zu retten.

      *

      Die Sorgen um ihre Mutter hielten Christine Lekutat davon ab, an ihre Arbeit zurückzukehren. Händeringend lief sie vor dem Operationssaal auf und ab. Sie war so vertieft in ihre Schuldgefühle, dass sie Schwester Elena nicht bemerkte. Daniel Norden hatte sie geschickt.

      »Hier stecken Sie! Der Chef sucht sie schon überall. Er will die Operation von Frau Wiesenstein besprechen.«

      »Ich kann jetzt nicht!«

      »Wie bitte?« Die Ablehnung kam einer Arbeitsverweigerung gleich. »Aber …«

      Trotz der Brille, die sie aufgesetzt hatte, verschwamm Christines Blick schon wieder.

      »Meine Mutter … Sie ist da drin. Appendixperforation.« Mit zitternder Hand deutete sie auf die Tür des OPs. »Seit Tagen klagt Mama über Bauchschmerzen und Übelkeit. Aber ich habe sie einfach nicht beachtet. Ich dachte, sie heischt wieder einmal um Aufmerksamkeit.«

      Elena musterte die Chirurgin, eine steile Falte zwischen den Augen. So hatte sie Christine nie zuvor gesehen.

      »Bitte machen Sie sich keine Vorwürfe. Wer denkt denn bei Bauchschmerzen gleich an so etwas?«

      »Ich bin Ärztin. Ich hätte es wissen müssen«, begehrte Christine auf. »Wissen Sie, Mama schimpft ständig, dass ich zu viel arbeite und zu wenig Zeit für sie habe. Da wird man schon mal ­betriebsblind. Und jetzt, jetzt ist es vielleicht zu spät. Dieser Gedanke … Der macht mich wahnsinnig. Mama …« Ihre Stimme erstickte in Tränen.

      Schwester Elena konnte nicht anders. Sie beugte sich hinab und drückte Christine an sich.

      »Alles wird gut«, versprach sie. »Und beim nächsten Mal machen Sie es einfach besser.«

      Irritiert schob Christine sie von sich.

      »Wie soll das gehen? Haben Sie in Anatomie nicht aufgepasst? Meine Mutter hat nur einen Blinddarm. Wie jeder andere Mensch auch.«

      Schwester Elena rang noch mit der Fassung, als sich die Türen zum OP öffneten und zwei Schwestern herauskamen. Adrian Wiesenstein folgte ihnen. Er lächelte.

      »Alles in Ordnung. Ihre Mutter kommt durch.«

      Einen Moment lang sah Christine Lekutat so aus, als wollte sie ihm um den Hals fallen. Zu seiner Erleichterung tat sie es nicht. Nachdem sie die Tränen getrocknet hatte, sah sie zu ihm auf.

      »Unter den gegebenen Umständen werden Sie verstehen, dass ich Ihre Einladung heute Abend leider ausschlagen muss.«

      Schwester Elena, die hinter ihr stand, sah Adrian fragend an. Der schnitt eine Grimasse.

      »Ihre Mutter braucht Sie jetzt«, sagte er zu Christine.

      »Das haben Sie völlig richtig erkannt. Und sie sollten sich besser mal um Ihren Sohn kümmern. In diesem Alter kommen Kinder auf die dümmsten Gedanken. Da unterscheiden sie sich kaum von alten Leuten.« Christine nickte ihm zu, ehe sie sich abwandte und den Raum verließ.

      Noch immer ruhte Elenas Blick auf Adrian.

      »Sagen Sie jetzt nichts«, bat er sie und machte sich ebenfalls auf den Weg.

      *

      Nach und nach tauchte Jakob aus den Tiefen seines Unterbewusstseins auf. Schuld daran war auch der Schmerz, der wie ein Presslufthammer in seinem Kopf hämmerte. O Mann, ich trinke nie mehr!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Hals war trocken, alles tat ihm weh. Seine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier.


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