Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
ist ein Gast vom Hocker gekippt.«
»›Bunstpecht‹?«, wiederholte Tatjana, während sie ihrem Freund dabei zusah, wie er in die Jacke schlüpfte. »Gibt es da etwas zu essen?«
Wendy rümpfte die Nase.
»Ehrlich gesagt war ich noch nie in diesem Etablissement. Das ist so eine Spelunke mit Spielautomaten. Wenn es etwas zu essen gibt, dann höchsten eine Currywurst mit Pommes.«
»Dann ist es ja kein Wunder, dass ich es nicht kenne.« Unbeeindruckt zuckte Tatjana mit den Schultern. »Egal, ich komme trotzdem mit. Neue Erfahrungen haben noch niemandem geschadet.«
Danny griff nach der Arzttasche. Er war zum Aufbruch bereit.
»Willst du nicht schon heimgehen? Ich komme dann nach.«
»Dieses Risiko will ich nicht eingehen«, erwiderte Tatjana. »Jetzt, da ich dich gerade erst wiedergefunden habe.« Sie zwinkerte ihm zu zum Zeichen, dass sie es nicht ganz ernst meinte.
Trotzdem lag ein Körnchen Wahrheit in ihren Worten. Seit Dr. Daniel Norden senior die Leitung der Behnisch-Klinik übernommen hatte, führte ihr Freund Danny die Praxis Dr. Norden allein. Wie befürchtet war das Arbeitspensum enorm, zumal die Beliebtheit des Juniors der des Seniors inzwischen in nichts mehr nachstand. Oft kam Danny erst spät nach Hause. Tatjana dagegen musste als Bäckerin die Wohnung schon früh am Morgen verlassen. Umso wichtiger waren die Stunden, die sie gemeinsam verbringen konnten. »Am Ende läufst du mir wieder davon.«
»Gut.« Danny hatte keine Zeit zu verlieren. »Dann komm!« Er verabschiedete sich von seinen Assistentinnen und verließ gemeinsam mit Tatjana die Praxis.
Der Weg zum ›Buntspecht‹ war nicht weit. In weniger als fünf Minuten parkte Danny den Wagen vor der zwielichten Kneipe. Dort wurde er schon sehnsüchtig erwartet.
»Ein Glück! Kommen Sie.« Tim Kröger winkte ihn mit sich ins Lokal. »Und vielen Dank für die Tipps, die Sie mir am Telefon gegeben haben.«
Es dauerte einen Moment, bis sich Dannys Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Laute Musik stampfte aus den Lautsprechern. In einer Ecke blinkten Spielautomaten und dudelten immer gleiche Melodien. Endlich entdeckte Danny den Patienten. Er lag in einer anderen Ecke am Boden, die Beine hochgelagert, eine zusammengefaltete Jacke unter dem Kopf. Tatjana, die ihren Freund nicht bei der Arbeit stören wollte, setzte sich auf einen Hocker am Tresen. Danny dagegen kniete neben dem jungen Mann nieder und griff nach dessen Handgelenk.
»Hallo, mein Name ist Dr. Norden. Können Sie mich hören?«
Ein vages Nicken war die Antwort.
»Haben Sie getrunken?« Der Puls des jungen Mannes war alarmierend flach, die Temperatur deutlich erhöht.
Wieder nickte der blonde Mann, der aussah, als käme er direkt aus dem Urlaub. Tatsächlich bemerkte Danny den Rucksack, der an der Wand lehnte.
»Er hat in kürzester Zeit drei Bier runtergeschüttet.« Es war der Wirt, der diese Frage beantwortete. Er stand hinter dem Tresen und trocknete Gläser ab. »Zuerst dachte ich, dass er keinen Alkohol verträgt, weil er aufgestanden und durch die Kneipe geschwankt ist.«
»In diesem Zustand ist das kein Wunder«, bestätigte Danny Norden, ehe er sich wieder seinem Patienten zuwandte. »Wie heißen Sie?«
Der junge Mann brauchte einige Anläufe, bis er seinen Namen herausbrachte.
»Caspar … Jürgens«, krächzte er. Stöhnend deutete er auf die Beine. »Ich habe solche Schmerzen.«
»Wo waren Sie im Urlaub?«
»Kambodscha.«
Blitzschnell dachte Danny nach.
»Sie müssen in die Klinik.« Er zog das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Behnisch-Klinik. Während er auf Antwort wartete, sah er Caspar fragend an. »Gibt es jemanden, den ich informieren soll?«
Caspar zögerte. Sein Atem ging stoßweise, so schlimm waren seine Schmerzen.
»Meine Mutter«, krächzte er schließlich. »Leonie Jürgens.«
»In Ordnung.« Die Klinik meldete sich, und Danny Norden bestellte einen Wagen. Schnell war das Gespräch beendet. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das kriegen wir schon wieder hin«, versprach er, um seinen Patienten zu beruhigen.
Dabei war er sich seiner Sache selbst nicht so sicher. Fest stand für ihn nur, dass Caspar Jürgens ein Souvenir aus dem Urlaub mitgebracht hatte, über das er sich sicher nicht freute.
*
Dieter Fuchs, Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik, saß an seinem Tisch und studierte die Unterlagen zu seinem momentanen Lieblingsprojekt. Sein Bekannter, der Stadtrat Karl Schmiedle, hatte diese Idee aus gutem Grund an ihn herangetragen. Er wusste, dass die renommierte Behnisch-Klinik ein beliebtes Krankenhaus war, in dem die Patienten sich gut aufgehoben und noch besser behandelt fühlten. Damit passte das Haus perfekt in sein Vorhaben, einzelne handverlesene Einrichtungen wie eine Seniorenresidenz, ein Kinderkrankenhaus und ein Reha-Zentrum zu einem Gesundheitszentrum zusammenzufassen. Ziel war es, einzelne Abteilungen wie Labore, Küchen oder die Kinderstation der Behnisch-Klinik zu schließen und die Arbeiten an die Partner zu vergeben. Dadurch sollte die Effizienz der verbliebenen Abteilungen gesteigert werden. Dummerweise hatten sich Dieter Fuchs’ Hoffnungen nicht erfüllt. Der neue Chef der Behnisch-Klinik, Dr. Daniel Norden, hatte sich gegen eine Beteiligung an dem Projekt ausgesprochen.
»Immer diese Sentimentalitäten«, schimpfte Fuchs vor sich hin, während er in den Unterlagen blätterte, die das Projekt in den schillerndsten Farben beschrieb. »Effizienz heißt das Zauberwort. Nur so ist ein Überleben auf Dauer gesichert.«
»Ich bin ganz deiner Meinung.«
Der Verwaltungsdirektor zuckte zusammen und starrte zur Tür. Volker Lammers lehnte zufrieden lächelnd im Rahmen.
»Bist du völlig übergeschnappt?«, fragte Fuchs scharf. »Mich so zu erschrecken. Ich bin in einem Alter, in dem das auch mal ins Auge gehen kann.«
»Keine Angst.« Lammers stieß sich vom Türrahmen ab und trat ein. »Ich sollte eh mal wieder jemanden wiederbeleben, sonst komme ich aus der Übung.«
»Sehr witzig«, schnaubte Dieter Fuchs. »Was willst du? Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du nicht einfach so hier aufkreuzen sollst. Am Ende schöpfen die Leute noch Verdacht, dass wir unter einer Decke stecken.«
Unbeeindruckt legte Volker Lammers die Patientenakte, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch.
»Sollen sie doch. Nordens Ende ist nah. Und das seiner Frau auch. Dann wird die Kinderabteilung in diesem Haus geschlossen, und ich werde Chef der Kinderklinik.« Eine düstere Wolke huschte über sein Gesicht. Er nahm Fuchs ins Visier. »Vorausgesetzt natürlich, Schmiedle hält sein Versprechen.«
»Natürlich. Er will die Besten der Besten in den Führungspositionen«, erwiderte Dieter Fuchs selbstverliebt. »Und das sind nun mal wir.« Neugierig streckte er die Hand nach der Akte aus. »Was ist das?«
»Vorhin wurde ein Bengel mit Anaphylaxie eingeliefert. Sein Zustand ist aussichtslos. Den nächsten Anfall wird er nicht überleben.« Es war typisch für den Kinderchirurgen, derart gefühllos über seine Patienten zu sprechen. Einer der vielen Gründe, warum sich Felicitas Norden niemals an Dr. Lammers gewöhnen würde. Aber das war seiner Ansicht nach auch nicht wichtig. Er wähnte ihre Zeit ohnehin abgelaufen.
»Ja und?« Dieter Fuchs sah seinen Verbündeten fragend an.
Das Lächeln auf Lammers’ Gesicht wurde breiter.
»Forscher arbeiten an einem Mittel gegen diese Krankheit. Ein Medikament für eine orale Immuntherapie wird gerade getestet, ist aber noch nicht zugelassen. Wenn die Eltern das erfahren, werden sie von unserem werten Chef verlangen, dass er das Medikament einsetzt. Nachdem der Bengel so oder so keine Chancen hat, wird der Gutmensch Norden zustimmen. Er wird den Versuch auf seine Kappe nehmen.« Zufrieden rieb sich Lammers die Hände. »Und dann haben