Jan und die Leopardenmenschen. Carlo Andersen
sogar aufs Essen würde er verzichtet und die geliebte Bequemlichkeit aufgegeben haben, wenn er nur dem Freund hätte helfen können. Mutmaßlich hätte der Dicke nicht gar so sehr ein Abenteuer herbeigesehnt, wenn er geahnt hätte, was ihm noch alles bevorstand. – Aber glücklicherweise kann ja kein Mensch in die Zukunft sehen!
Die Strecke von Madeira nach Las Palmas auf den Kanarischen Inseln betrug nur 300 Seemeilen. Unterwegs dorthin erzählte Ingenieur Smith: «Wenn ihr die Namen dieser Inseln hört, dann denkt ihr wohl zunächst nur an Kanarienvögel. Die Inseln sind auch die eigentliche Heimat dieser Vögel, aber es gibt noch einiges, was euch vielleicht zu wissen interessiert. In alter Zeit hießen sie die ‹Glücklichen Inseln›, aber der römische Schriftsteller Plinius gab ihnen den Namen Canaria, denn es gab damals sehr viele Hunde dort, und das lateinische Wort canis bedeutet Hund. Die Ureinwohner waren die Guantschen, die sprachlich den Berbern verwandt waren, aber nach und nach mischten sich Spanier, Mauren, Flamen und Normannen darunter ...»
«Wie bitte?» staunte Erling. «Normannen auch?»
Der Ingenieur mußte über Erling lachen. «Daß dich noch irgend etwas in dieser Richtung erstaunen kann, Erling! Ich hielt dich immer für ein wandelndes Lexikon. Doch, die Einwohner dieser Inseln haben teilweise normannisches Blut. Bekanntlich stammen die Normannen aus Norwegen und Dänemark, und es ist ja ganz amüsant, wenn man sich vergegenwärtigt, daß dieses nordische Blut sich nun so weit im Süden des Atlantischen Ozeans mit dem anderer Völker vermischte ...» Scherzhaft fügte er hinzu: «Daß die Bevölkerung nun so erfreulich tüchtig und fleißig ist, können wir wohl kaum mehr dem dänischen Einschlag zuschreiben. Die Einwohner sind auch weithin bekannt für ihre große Gastfreundschaft, und die haben sie ja mit den Jüten gemeinsam ...»
«Haha! Da sprach ein Jüte», lachte Erling.
«Ja», meinte Ingenieur Smith und nickte vergnügt, «man muß die Gelegenheit doch wahrnehmen, wenn sie sich bietet. – Weiter müßt ihr wissen, daß die Inseln vulkanisch und gebirgig sind. Es gibt heute aber nur noch einen einzigen tätigen Vulkan ...»
«O nein!» entfuhr es dem entsetzten Jesper, der ganz blaß um die Nase geworden war. «So einer, der Feuer und Lava und all solches Zeug speit?»
Erling klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. «Nur ruhig Blut, kleiner Krümel. Mach dir bloß keine unnötigen Sorgen. Mach es, wie ich es dir immer schon geraten habe. Halte dich einfach hinter dem breiten Rücken deines Onkels Erling, und der böse Vulkan tut dir nichts!»
«Halt den Mund, du dickes Kamel!»
Ingenieur Smith lachte schallend. «Was Dromedare angeht, so kann ich euch glaubwürdig versichern, daß solche auf den Inseln verschiedentlich als Haus- und Nutztiere gehalten werden. Das gibt dem Bild ein entschieden afrikanisches Gepräge. Sonst aber sind die Inseln ziemlich mit der Zeit gegangen; man muß freilich leider sagen, daß sich die spanische und portugiesische Herrschaft eher hemmend auf die Entwicklung der Einwohner ausgewirkt hat. Die Kanarischen Inseln gehören, wie ihr sicher wißt, zu Spanien.»
«Es gibt sicher wenig Regen auf diesen Inseln?» wollte Jack Morton wissen.
«Von November bis März ist Regenzeit, aber das Erstaunliche ist, daß die Inseln manchmal auch mitten in der Regenzeit unter Wassermangel leiden. Die Erde ist außerordentlich fruchtbar. Man baut Korn an, Südfrüchte, Wein, und auch Seide gibt es dort. Und dann gibt es den sogenannten Kanariensekt ...»
«Kanaljensekt, wie wir in Dänemark sagen», meinte Erling.
Smith nickte. «Richtig. – Abschließend sei noch gesagt, daß die Einwohner sich hauptsächlich von der Landwirtschaft ernähren und Viehzucht und Schifffahrt betreiben. Industrie gibt es nicht viel, und der Handel ist hauptsächlich in englischer Hand. Las Palmas selber ist eine Stadt mit etwa einhunderttausend Einwohnern, aber recht viel mehr kann ich euch darüber nicht sagen. Nun, vielleicht noch, daß sie einen sehr schönen Dom besitzt und einen Hafen, der Puerto de la Luz heißt und sechs Kilometer von der Stadt entfernt liegt ...»
«Sechs Kilometer?» stöhnte Erling. «Soll das heißen, daß wir bei der Hitze so weit laufen müssen?»
«Nein, keine Angst, du wirst dich nicht überanstrengen müssen», gab Smith trocken zur Antwort. «Zwischen dem Hafen und der Stadt gibt es eine regelmäßige Bahnverbindung.»
«Welch ein Glück!» seufzte Erling befriedigt.
«Dummes Kamel!» murmelte Jesper.
«Du meinst Dromedar, lieber Krümel», berichtigte Erling ihn freundschaftlich.
Der Aufenthalt in Las Palmas dauerte nur drei Tage und brachte keine Überraschungen irgendwelcher Art. Genauso ereignislos war auch die Weiterreise nach Dakar, der Hauptstadt Französisch-Westafrikas (jetzt Senegal), wo die ‹Flying Star› Brennstoff aufnehmen sollte. Ingenieur Smith hatte in Dakar sonst nichts zu erledigen, aber die Jungen bekamen doch einen recht guten Überblick auf den Hafen, der im Zweiten Weltkrieg sehr umkämpft war.
Nun wurde es täglich etwas wärmer, und es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß es langsam dem Äquator zuging. Sogar draußen auf dem Atlantik war die Hitze spürbar, und als sich die Jungen eines Nachmittags im Schatten der großen Kajüte versammelt hatten, schnaufte Erling: «Puh! Ich komme mir vor wie in einem römischen Dampfbad!»
Jesper hatte immerhin noch genug Energie zu sagen: «Es tut dir nur gut, Dicker, wenn du ein paar Kilo abnimmst. Wenn wir wieder einmal nach Dänemark zurückkommen, dann wirst du so schlank sein, daß dich keiner mehr kennt.»
Erling war zu schlapp, um sich auf eine Diskussion einzulassen. Müde fächelte er sich mit seinem weißen Tropenhelm Luft zu, während ihm der Schweiß über Stirn und Wangen lief. Schon auf den Kanarischen Inseln war den Jungen klar geworden, daß nun die Zeit gekommen war, ihre Tropenkleidung auszupakken. Sie trugen nur noch leichte Schuhe, weiße Shorts, offene weiße Hemden mit Leinenjacken darüber und Tropenhelme. Ingenieur Smith hatte in Las Palmas auch einige Moskitonetze gekauft, aber die hatten sie bisher glücklicherweise noch nicht benutzen müssen. Nach Meinung der Jungen war die Hitze an sich schon schlimm genug. Auch wenn es natürlich draußen auf dem Meer etwas frischer war, merkte man doch die Nähe Afrikas. Der riesige Kontinent strahlte eine Hitze aus, die man noch einige hundert Kilometer weit draußen deutlich spürte. Nachdem sich Ingenieur Smith mit den beiden Seeleuten besprochen hatte, entschloß er sich, den Golf von Guinea zu durchqueren, anstatt der Küste zu folgen. Dies bedeutete eine große Zeitersparnis, und das Wetter sah nicht aus, als würde es bald umschlagen und unangenehme Überraschungen bereithalten. Im übrigen hatte die ‹Flying Star› ja bewiesen, daß sie sich sehr gut in einem Orkan behaupten konnte.
Der an Weltgeschichte interessierte Erling war ein wenig enttuscht über diese Entscheidung, denn er hätte gern Ghana näher kennengelernt, wo sich einst dänische Kolonien befanden. Lächelnd meinte Ingenieur Smith dazu: «Darüber solltest du keine Träne verlieren, Erling. Das Klima der Goldküste ist nicht sehr einladend ... besonders an der Küste. Du hast ja in Dakar schon so unter der Hitze gelitten.»
«Na, immerhin haben eine Menge Dänen es dort auch ausgehalten.»
«Sicher, aber sie sind auch wie Fliegen dabei gestorben. Was weißt du eigentlich über die einstigen dänischen Kolonien?»
«Die bekanntesten Festungen waren Kongesteen, Prinsensteen und Christiansborg, wo die englischen Gouverneure jetzt residieren. Dänisch-Guinea wurde im Jahre 1657 von Frederik dem Dritten gegründet. Er schickte eine Flotte hier herunter, um die schwedischen Festungen zu erobern, die bereits früher gebaut worden waren. Und nach dem Frieden von Kopenhagen im Jahre 1660 behielten wir die Kolonien ...»
«Wie lange?»
«Bis 1850, als wir sie den Engländern verkauften. Eigentlich war es unsere eigene Schuld, daß es so ausging ...»
«Wieso?»
«Ja, weil wir bekanntlich das erste Land der Welt waren, das den Sklavenhandel verbot. Erst viel später folgten andere Länder dem Beispiel Dänemarks. Und der Sklavenhandel war die größte Einnahmequelle Dänisch-Guineas. Danach begann es mit der Wirtschaft