Baden-Baden wagen. Ulrich Wendt
Frühling 1955 muss es gewesen sein, als ich mit meinem sichtbar stolzen Vater vor unserem Baugrundstück in der Stresemannstraße, einem steilen Hang am sogenannten Birkenbuckel, stand. Von der Talseite vis-à-vis grüßte als Ensemble der Hausberg Merkur mit Aussichtsturm plus waghalsiger Standseilbahn Hand in Hand mit seinem Zwillingsberg „Kleiner Staufen“. Davor, wie hingetupft, die Eckhöfe mit Marienkapelle und, wie ich Tage später bestaunen konnte, mit alten Weinstöcken. Über uns ein stattliches Sanatorium, unter uns das Hotel Runkewitz direkt an der Lichtentaler Allee, das wenige Jahre danach fast bis auf die Grundmauern abbrennen sollte. Papa, gelernter Stadtbaumeister, hatte als neuer Leiter des städtischen Hochbauamtes für die sechsköpfige Familie alles auf Zukunft gesetzt und für das schmalbrüstige, langgestreckte Haus mit gewagtem Treppenaufstieg den letzten Pfennig umgedreht. Vom Timmendorfer Strand direkt in den Schwarzwald – mein Herz schlug hoch – was für ein Paradies! Eine märchenhafte Kulisse allein der Schulweg in die Vincenti-Grundschule. Zwei Minuten bergab zur Linken flatterten Hammer und Sichel über der Villa Sorento. Die sowjetische „Botschaft in der Hauptstadt“ der ehemaligen französischen Besatzungszone war noch immer als Militärmission aktiv. Auf der anderen Seite der Oos grüßte von Brücken flankiert das prachtvolle Hotel Bellevue mit seiner soignierten Parklandschaft. Es folgte, immer entlang der zentralen Flusspromenade, zur Rechten die Gönneranlage, ein zauberhafter Rosengarten, benannt nach einem weitsichtigen Oberbürgermeister. Gegenüber die rotsandige Anlage des ältesten deutschen Tennisclubs Rot-Weiß, einer Gründertat der englischen „Kolonie“, die sich später mehr und mehr Richtung Nizza verabschiedete und zusätzlich noch den ältesten Golfclub hierzulande und die anglikanische Kirche am Gausplatz als Abschiedsgeschenk hinterließ. Es gab dann Weg-Varianten, aber die absolute Lieblingsstrecke führte entlang dem Flaggschiff, dem legendären Brenner‘s Parkhotel (heute Brenners Park-Hotel & Spa), bis 1949 Sitz der französischen Militärregierung, vorbei an prächtigen Villen wie der Villa Stephanie, benannt nach der Adoptivtochter Napoleons, Mitglied der markgräflichen Familie, und endete mit dem Palais Gagarin, benannt nach einem russischen Aristokraten und Liebhaber der Stadt. Gegenüber die Staatliche Kunsthalle aus der preußisch-wilhelminischen Phase, wenn auch schon im damals gewagten schnörkellos schlichten Baustil, was dem Kaiser als stetem Sommergast im nahen Maison Messmer gar nicht gefiel. Der Internationale Club, vormals Residenz der schwedischen Königin Frederike sowie das Stadttheater, ein architektonisches Schmuckstück der Pariser Schule. Sie alle zeugten von der internationalen Durchdringung der ehemaligen Sommerhauptstadt Europas.
Auf Höhe der Kurhaus-Kolonnaden ging es über die Fieserbrücke, den Leopoldsplatz mit vom Verkehr umtosten, wild winkendem Polizisten auf der Kanzel, über den schönsten, von Kastanienbäumen gesäumten Boulevard Baden-Badens, der Sophienallee. Dann war ich da, in meiner Schule. Hatte ich ein oder zwei Groschen in der Tasche, was keinesfalls immer der Fall war, freute ich mich vornehmlich auf eine zuckerglänzende Schneckennudel und eine knusprige, grobkörnig gesalzene Laugenbrezel in der großen Pause.
Natürlich hat mich prima vista das schöne Augenspiel entlang der Lichtentaler Allee nur optisch fasziniert. Ganz besonders, wenn zur Alleebeleuchtung gefühlt Tausende von Kerzen sowie fantasievolle Illumination nicht nur Gebäude, sondern auch Brunnen und prachtvolle Baumkronen mit dem abnehmenden, natürlichen Licht zu einer Fata Morgana zu verschmelzen schienen. Durch meinen Vater dann – wir durchwanderten fleißig Stadt, Wald und Flur – vertieften sich Kulissen durch Namen von Persönlichkeiten, ihren Lebensgeschichten sowie Großereignisse zu dem, was Baden-Baden ausmacht, zum Genius Loci. Das Zusammenspiel von Natur, Kultur, mitunter märchenhaft anmutenden Ereignissen samt Schicksalsmomenten, die ein Blitzlicht auf den ureigenen Zauber „dieses Sehnsuchtsortes“ werfen, begannen von da an in einem selbst weiter zu wohnen. Was als Ahnung seinen Anfang nahm, keimte ganz sanft und mehr gefühlt als gewusst, als Beginn einer lebenslangen Bestimmung in mir auf: diese Stadt von innen her verstehen. Dies galt allerdings, wie sich erweisen sollte, nicht nur für die Glücksfälle meines Lebens.
Ein väterlicher Stupser, schau mal da: Ein grauhaariger, schon sehr gebeugter, aber stattlicher Mann verließ einen großen Mercedes und erstieg mühsam die Treppen der Staatlichen Kunsthalle. Ich erkannte ihn selbst, denn Zeitung las ich schon sehr früh, wenn auch meist wegen der Fußballergebnisse von Kaiserslautern mit Fritz und Ottmar Walter. Es war unser Bundespräsident Theodor Heuss – und ich war dabei!
2.
INNENLEBEN: LEGENDÄRE GÄSTE – DAS LEBEN EIN FEST
Die Großereignisse, die haften blieben, oft von so legendären Baden-Badener Originalen wie Ludwig Braun, meist weinselig geschmückt, verselbstständigten sich bleibend als Running Gag. Ludwig, über drei Jahrzehnte graue Eminenz im Rathaus wie im Gemeinderat, Sängerpräsident, Volkstribun mit einem Schuss urbadischem Karl Valentin, war als prägender Protagonist aus dem bodenständigen Baden heraufgestiegen. Unvergessen sein Kampf mit dem Nierenstein, der nach eiskaltem Champagner im lauwarmen Hallenbad von Tony Marshall mit „Ich hätt‘ ’nen Mansardenbrand lösche könne“, seine Befreiung fand. Oder dem oberschlesischen „Herzblut-Katholiken mit Beichtstuhl-Aura“ Pit Fiolka als Herrscher im Mittelreich von Bistro, Disco, Nachtleben und stilvollendeter Wandler „Upperclass“ bei Adel, Prominenz, Showbusiness, der nebenbei so manche weibliche Herzen zum Schmelzen brachte.
Beide stehen für durchschlagende Deutungshoheit. Sie speisten Baden-Baden, den „Januskopf mit Doppelnamen“, in der analogen Nachkriegszeit schichtenübergreifend bildkräftig, wirkmächtig und ab und an mit rasender Beschleunigung.
Da war das Wunder aus 1001 Nacht im März 1955, als der Schah von Persien und Kaiserin Soraya vom Pfauenthron herabstiegen, um ganz Baden-Baden und Deutschland in ihren Bann zu ziehen. Da war 1957 der legendäre Wüstensohn König Ibn Saud. Mit Teilen seiner Herrscherfamilie verweilte er länger als gedacht im nur für ihn hergerichteten, exklusiven Hahnhof, der etwas erhöht über dem Palais Biron und der goldenen Kuppel der russisch-orthodoxen Kirche thronte. Er streute sein Wohlwollen mit Preziosen aller Art weit über das Oostal. Edle Armbanduhren und arabische Dolche als Brieföffner hatten Hochkonjunktur.
Da war 1981 der Olympische Kongress, der die Weltfamilie des Sports im Kurhaus versammelte und die Vergabe der Olympischen Spiele nach Seoul als mediales Großereignis konzertierte. Und in allen fünf Kontinenten lief der Name Baden-Baden über den Ticker, während intern die Kommunikation in allen Gott geschenkten Sprachen die kleine Stadt vibrieren ließ.
Da rauschten jährlich Schlossfeste, Schlagerfestivals mit Dieter Thomas Heck, sämtliche Tournee-Erstauftritte von Udo Jürgens über Jahrzehnte, Miss Germany-Wahlen, Großmeister-Schachturniere, Welttanz-Events und Sportler des Jahres über die Bühnen. Marlene Dietrichs Seufzer „Das schönste Spielcasino der Welt“ gleich neben dem Bildnis der Madame Pompadour und ihrer Devise „Nach mir die Sintflut“ flirrten durch die Lüfte. Dazu richteten Croupiers Abend für Abend jetzt schon im dritten Jahrhundert mit dem „Nichts geht mehr“, der surrenden Roulettekugel und dem Verkünden der Schicksalszahl mit blitzschnellem Zuordnen der Jetons über Freud‘ und Leid. Fjodor Dostojewskis „Der Spieler“ wurde hier inspiriert und vom Autor durchlebt. Dazu vergoldeten Oldtimer-Meetings, Ballooning und die traditionelle „Große Woche“ mit Pferderennen, Bällen, Banketten und Feuerwerk den Spätsommer. Und nicht zu vergessen: In den 1950er- bis 1960er-Jahren, kurz nach Wimbledon, gastierten im TC Rot-Weiß vor dicht besetzten Tribünen die Topspieler des weißen Sports.
Auch der kleine Uli Wendt gewann 1957 auf der Iffezheimer Rennbahn sein erstes größeres Taschengeld von 5,20 DM per Platzwette bei einem Einsatz von 2,50 DM. Dem Jockey Hein Bollow sei Dank. Unvergessen und blitzschnell in Kinokarte plus Eis umgerechnet und mit leicht schlechtem Gewissen danach verprasst. Beim TC Rot-Weiß bewunderte Uli Ken Roosevelt und Tony Roche als Balljunge und Linienrichter. Aber es nutzte ihm wenig: Seine Freunde und Klassenkameraden wie Franz Mayer, Jürgen Winter, Waldemar Timm und Rolf Wertheimer sammelten Titel, stießen vor bis in die deutsche Spitze oder wurden respektable Unternehmer. Apropos Franz Mayer: Er sollte als ältester Freund, bis heute an meiner Seite, nicht nur als Tennistrainer, als großherziges Baden-Badener Original, sondern auch als der mit Abstand kundigste Fachmann für kniffligste Verkehrsfragen, eine Heldentat vollbringen. Er löste den gordischen Knoten des stadteinwärts fließenden Verkehrs