Baden-Baden wagen. Ulrich Wendt
für die ganz „normale Bürgerstadt“. Der traditionell leider schwache Wirtschaftsstandort für Industrie und produzierendes Gewerbe lief nun zusätzlich Gefahr, auf die Bereiche Dienstleistung, Einzelhandel und Hotellerie überzugreifen. Es war höchste Zeit für einen Kurswechsel an Haupt und Gliedern, einem wirklichen Neustart. Das war die Herausforderung für den Neuen im Rathaus, dem ehemaligen Jesuitenkloster, als er sein fast quadratisches, hohes Zimmer mit den beiden bodentiefen Flügelfenstern und dem beeindruckenden weißen Kamin betrat. Er mochte es sehr. Er sollte da auf einem verdammt heißen Stuhl Platz nehmen.
MONTAG, 30. MÄRZ 2020
DIE CORONA-INFIZIERTEN-ZAHL FÜR DEUTSCHLAND GEHT ÜBER DIE 60.000 HINAUS. DIE SITUATION IN NEW YORK, SYMBOL DER AMERIKANISCHEN STÄRKE, OFFENBART EINE ACHILLESFERSE: ÜBERFÜLLTE, SCHLECHT AUSGERÜSTETE KRANKENHÄUSER UND KEIN SOZIALES NETZ ZUM AUFFANGEN BREITER BEVÖLKERUNGSSCHICHTEN. BEI UNS BLEIBT ES EHER LÄNGER WIE KURZ BEI KONTAKTSPERREN. ERSTE EXITSTRATEGIEN ZUM WIEDERANKURBELN DER WIRTSCHAFT WERDEN EVALUIERT. MEHR UND MEHR ZEICHNET MAN EINE LÄNGERE ZEITACHSE IN WELLENBEWEGUNGEN, DIE NOCH DER KONKRETISIERUNG BEDÜRFEN. NOCH IST DIE STIMMUNG IM LAND, ZWISCHEN REGIERUNG UND GESELLSCHAFT, ERFREULICH KONSTRUKTIV.
5.
DER START
Der Neue fing an zu arbeiten. Wie immer wurde man als Wahlsieger unverdientermaßen mit Vorschusslorbeeren überhäuft. Gleich für das erste Wochenende, den 2./3. Juni, hatten der Einzelhandel und die Gastronomie der Innenstadt unter dem euphorischen Aufmacher „Baden-Baden blüht auf“ – darüber war mein Vorgänger verständlicherweise gar nicht glücklich – mit einem Blumenmeer, Live-Musik, Open Air-Bars, Leckerbissen und Sonderangeboten ein Signal gesetzt. Es wurde ein Reinfall. Petrus öffnete die Schleusen. Dauer-Starkregen und kalt-windiges Wetter trieben die Blütenblätter über Pfützen, leere Plätze und Fußgängerzone. Für den umgestalteten Leopoldsplatz, dessen mit Sand gefugte Platten unter dem Druck der kreuzenden Linienbusse schon bald verrutschten und ein bis 2019 währendes Trauma verursachen sollten, war Krisenmanagement angesagt. Man suchte auf dem zentralen Platz der Stadt vergebens den neuen Blickfang. Der ersehnte langgestreckte, weiße Marmorbrunnen, Richtung Fieserbrücke, Lichtentaler Allee, Kurhaus, war unauffindbar. Dafür gähnte ein Loch. Die Kette zwischen Unternehmer und Subunternehmer war wohl gebrochen. Ich schickte eigene Leute, selbst meinen Hauptamtsleiter Josef Höß, in die Alpen, die bei der Vor-Ort-Recherche in einem Tessiner Steinbruch fündig wurden. Man bestaunte einen noch unfertigen Monolithen. Erst Monate danach sprudelte das Wasser. Es dauerte weitere Jahre, bis nach einem Gutachter-Slalom gegen die gigantischen Flieh- und Druckkräfte der öffentlichen Verkehrslinien die neue Lösung gefunden, beschlossen und umgesetzt wurde. Die Fliehkräfte waren aber auch im Gemeinderat zu verzeichnen. Egal, ob Klebstoffe, Plattengröße, Anordnung und Dicke – es wurde angesichts der Vielzahl unterschiedlichster fachlicher Expertisen zu einer Glaubensfrage. Einige Gemeinderäte streikten bei der Abstimmung. Über dem Leo hing ein Fluch, der die Stadt noch viel Energie und Geld kosten sollte.
Hier ein kritisches Licht auf mich. Ich hatte einen Ruf als Macher. Das Rathaus hatte beim Amtswechsel in der Bevölkerung nicht nur Freunde. Ich wollte ein erfolgreiches, ein bürgernahes, straff geführtes Rathaus, eines, in dem an einem Strang gezogen wird. Mit Klinik, Stadtwerken und nach der BKV-Neuordnung ab 1994/1995 waren dies über 2.000 Mitarbeiter. Ich wollte ziemlich vieles gleichzeitig. Manchmal einfach zu viel auf einmal. Bürgerbriefe sollten binnen maximal drei Wochen von mir unterschrieben und expediert werden. Bauanfragen und Genehmigungen bekamen enge Zeitfristen und wurden am kurzen Zügel kontrolliert. Die Amtsleiterrunde im Rathaus stöhnte. Ich erhöhte den Druck. Mein Wahlslogan lautete: „Nah am Bürger – konsequent – für Baden-Baden Ulrich Wendt“! Ich wollte das unbedingt einhalten. Ich musste und wollte also auf fast jeder Hochzeit tanzen. Zugleich hatte ich einen absoluten Doppel-Job. Ich war noch bis 1992 parallel Landtagsabgeordneter. Das war für die Stadt lebenswichtig, um die BKV auf neue Gleise zu setzen. Ich hatte der Badener Bevölkerung zugleich versprochen, 1992 als Abgeordneter nicht wieder anzutreten, was ich einlöste. Aber zuvor musste ich wichtige Hürden nehmen. Nur keine Blöße geben, war die Devise. Ein erster Haushaltsentwurf für 1991/1992 des CDU-Finanzministers Guntram Palm verschlug mir die Sprache. Es drohte eine brutale Kürzung der Spielbankabgabe um viele Millionen. Hätte ich in dieser Phase nicht die volle Rückendeckung einer starken Frau und Persönlichkeit, gleichzeitig Vorsitzende der CDU-Mehrheitsfraktion, Ursula Lazarus, gehabt – man hätte Entscheidendes in und für Baden-Baden nicht stemmen können. Sie wurde auch als meine Nachfolgerin als MdL ab 1992 zur unverzichtbaren, engsten Wegbegleiterin. Darüber wird noch zu reden sein. Aber so viel vorweg: Nomen est omen! Wenn man Lazarus heißt, erreicht man Herzen mit heilender Wirkung. Für einen Ministerpräsidenten, der in den kritischsten Phasen der Stadt mit dem Namen Teufel noch zum Rettungsengel werden würde, braucht es eine solche Frau! Im Gemeinderat hielt sie mir den Rücken frei. Nur mit dieser Arbeitsteilung konnte ich später die finanzielle Amputation der BKV-Mittel verhindern.
Doch zunächst galt es Zeit zu kaufen. Es wurde zwischen Land und Stadt bald darauf ein ordentlicher Prozess zur Beendigung der gegenseitigen BKV-Blockade aufgesetzt, um neues Vertrauen zwischen beiden Partnern Schritt für Schritt wieder aufzubauen.
Ich geriet in dieser extremen Phase an meine physische und psychische Belastungsgrenze. Ich hatte einen Bandscheibenvorfall, den ich lange einfach negierte. Das ständige Sitzen, das Pendeln per Auto oder Eisenbahn zwischen Baden-Baden und Stuttgart, voll genutzt für die Rathausarbeit, schufen mit den Abendterminen, den gemeinderätlichen Sitzungen, unabweisbaren repräsentativen Verpflichtungen für hochrangige Gäste mit anschließendem Dinner ein Übermaß. Zeitgleich baute ich in Baden-Baden unter dem Merkur unser neues erstes eigenes Haus. Meine Frau Gitta – wir sind zusammen seit 1968, heirateten 1973 – hatte nahezu die Alleinverantwortung für die ganze Familie mit den Kindern Julia und Tilman, elf und zehn Jahre alt, übernommen. Ein großer Umzug kündigte sich an.
Dann klappte ich zusammen. Wenige Wochen vor Weihnachten war ich schlicht bewegungsunfähig. Ich konnte weder sitzen, stehen oder liegen ohne steten Wechsel und ständigen Schmerzen mit ersten Taubheitssymptomen in den Beinen. Im Staatlichen Landesbad gleich neben der Caracalla-Therme konnte ich mich fallen lassen. Ich fand meinen Rettungsengel.
Einzug in unser neues Haus, August 1991.
Die couragierte Frau Wirbser, Leiterin der Physiotherapie, verpasste mir einen maßgeschneiderten Trainingsplan. Im Bett liegend, dann auf dem Zimmerboden, dann auch im fast leeren Haus übers Wochenende trainierte ich per Sondergenehmigung solo im Thermalbecken. Eine Operation lehnte sie kategorisch ab: „Sie kommen nicht unters Messer, ich habe schon viel zu viele Opfer gesehen.“ Drei Wochen später war ich wieder im Rathaus. Mit Disziplin, Tag für Tag über fünf Jahre hinweg, bekam ich die Sache dann endgültig in den Griff.
6.
EINE BEGEGNUNG – EINE WAHNSINNSIDEE
BÜRGERSTADT UND INTERNATIONALER STANDORT
Ermano Sens-Grosholz – der Name passte zu seiner Erscheinung: stattliche Figur, markantes Gesicht, starke Hände und soignierte Garderobe mit ausgesuchten Accessoires vom Scheitel bis zur Sohle. Er hätte als transalpiner Impresario zwischen Italien und Österreich auch das Jahrhundert zuvor verkörpern können. Seine ganze Passion galt einer elektrisierenden Idee für Baden-Baden als zukünftiger Festspielstadt mit einem in jeder Hinsicht großartigen neuen Opernhaus. Kein geringerer als Richard Wagner sollte bereits 1860 am Rande des Fürstenkongresses mit Napoleon dem Dritten für eine solche Option geworben haben. Der Platz im Talgrund sei schon fixiert gewesen, dann allerdings entschwand er nach einem enttäuschenden morgendlichen Rendezvous mit der Prinzessin Augusta von Preußen, der späteren Kaiserin. Es ranken sich viele Spekulationen über die Ernsthaftigkeit sowie die Motive der Beteiligten bis hin zu seiner wenig attraktiven sächsischen Mundart. Dieses ewige Geheimnis wird einem Ondit zu Folge seitdem unter dem Wandbild der Nixen vom Mummelsee bestens gehütet. Immerhin schrieb Richard Wagner 1871 höchstpersönlich, für seine Pläne wäre