Neuer. Dietrich Schulze-Marmeling
des Strafraumes im letzten Moment per Kopf vor Slimani klären. Und in der 88. Minute bereinigt er im Stile eines Liberos, als er den Ball vor dem heranstürmenden Feghouli erwischt. Dazwischen liegt die einzige halbwegs ernsthafte Prüfung auf der Linie. In der 75. pariert Neuer problemlos einen Distanzschuss Slimanis. So endet die reguläre Spielzeit torlos.
Kurz nach Beginn der Verlängerung erzielt Schürrle das erlösende 1:0 für die Deutschen, als er eine Hereingabe Müllers mit der Hacke verlängert. Algerien wird nun offensiver, wodurch sich den Deutschen Chancen zum Kontern bieten. Aber die Abwehr bleibt weiterhin fragil, weshalb ein Ausgleich immer im Bereich des Möglichen liegt – auch wenn die Kräfte der Nordafrikaner merklich nachlassen. In der 109. Minute muss Schweinsteiger mit Krämpfen den Platz verlassen, für ihn kommt WM-Debütant Christoph Kramer, der in der 117. Minute eine gute Gelegenheit zum 2:0 vergibt. Kurz darauf rettet Boateng vor dem durchgebrochenen Slimani, als die Abwehr zu weit aufgerückt ist. Und in der 120. Minute macht Özil mit einem Nachschuss nach einer Schürrle-Chance alles klar: 2:0. Erst in der Nachspielzeit der Verlängerung muss Neuer doch noch hinter sich greifen. Nach einer Flanke von Feghouli steht Djabou völlig frei vor dem deutschen Tor und verkürzt auf 1:2. Bald darauf ist Schluss, und das DFB-Team hat das Viertelfinale erreicht. Auf dem Rückflug ins Mannschaftsquartier Campo Bahia weiß DFB-Boss Wolfgang Niersbach, bei wem er sich für das Weiterkommen zu bedanken hat: „Ich denke, wir alle können heute ein dickes Dankeschön an unsere Nummer eins loswerden. Manu, was du heute geleistet hast, ist einfach absolute Weltklasse. Absolute Weltklasse.“
Der Passspieler
Manuel Neuer hat in diesen 128 Minuten und 21 Sekunden exakt 5,517 Kilometer zurückgelegt. Sein Gegenüber M’Bohli, mehr ein Keeper der alten Schule, kommt auf ungefähr zwei Kilometer weniger. M’Bohli bekommt 22 Schüsse auf seinen Kasten gefeuert, Neuer nur sieben. Dafür werden für Neuer 19 Ballkontakte außerhalb (!) des Strafraumes gezählt.
In der gleichen Zeit, in der Neuer 5,517 Kilometer gelaufen ist, hat sein Vordermann Per Mertesacker 10,786 zurückgelegt. Der Torwart ist also mehr als halb so viel gelaufen wie ein Innenverteidiger. Und nur ca. 1.100 Meter weniger als Mustafi auf der gewöhnlich laufintensiven Position des Außenverteidigers in den 70 Minuten und 17 Sekunden seiner Präsenz auf dem Feld (6.607). Allein in der ersten Halbzeit legt Neuer sechs Spurts hin. Das sind genauso viele wie Toni Kroos, die deutsche Nr. 10. Im gesamten Spiel rennt er zehnmal aus seinem Kasten, um Bälle abzulaufen oder anderweitig Fehler auszubügeln. Neuer spielt 42 Pässe, 14 davon auf Boateng, zehn auf Mertesacker. Sein Gegenüber M‘Bohli kommt auf 17. Neuer wird von seinen Vorderleuten 26-mal angespielt, M‘Bohli 16-mal. Neuer passt mit dem rechten Fuß, Neuer passt mit dem linken Fuß, Neuer passt kurz, Neuer passt direkt, Neuer passt lang in die Tiefe, Neuer schlägt lange Bälle. Seine Passgenauigkeit liegt bei 79 %, M’Bohlis bei 40 %. Damit erzielt Neuer einen besseren Wert als Mesut Özil (77 %), Mario Götze (71 %) und Thomas Müller (67 %) sowie 13 der 15 eingesetzten algerischen Spieler. Berücksichtigt man nur Spieler, die – wie Neuer – vom Anpfiff bis zum Abpfiff auf dem Platz stehen, dann ist Neuer besser als Özil, Müller sowie alle Algerier.
Zum „Man of the Match“ kürt die FIFA aber nicht Neuer, sondern M’Bohli. Die Jury lässt sich noch von traditionellen Vorstellungen leiten. M’Bohli hat stark und viel gehalten. Dass Neuer deutlich weniger durch die Luft flog als sein Gegenüber, hat einen einfachen Grund: Er war am Ball, bevor ihn ein Gegner auf seinen Kasten dreschen konnte. Was viele Zuschauer aber nicht sehen, zumindest nicht ausreichend goutieren, weil sie auf spektakuläre Flugparaden geeicht sind.
„Das Spiel des letzten Mannes revolutioniert“
In der Heimat wird die deutsche Mannschaft von den Medien heftig geprügelt. „Schürrle stark, Neuer top – der Rest ist Schande…“, ätzt die „Bild“. Insbesondere die Abwehr bekommt es um die Ohren. Die „Süddeutsche Zeitung“: „Nur einer verteidigte zuverlässig: Torwart Manuel Neuer.“ Das DFB-Team hat gegen Algerien kein gutes Spiel geliefert. Aber einige der riskanten Situationen, die den deutschen Fans während dieser WM den Schweiß auf die Stirn treiben, sind durchaus gewollt – allerdings nur möglich mit diesem Torhüter. Beispielsweise die sehr breite (gegen Algerien deutlich zu breite) Positionierung beim Spielaufbau, die bei Ballverlust dem Gegner große Räume zwischen den Verteidigern – vor allem den Außen- und den Innenverteidigern – anbietet, in die er laufen und passen kann. Aber Neuer ist hier stets aufmerksam und zur Stelle und stößt in diese Lücken hinein.
Der Spielaufbau der Deutschen, ja ihre gesamte Spielphilosophie wird bei dieser WM stark von ihrem Keeper beeinflusst. Während bei anderen Teams der Torwart nur zum Abwehren gegnerischer Schüsse vorgesehen und in die Mannschaftstaktik nur beschränkt integriert ist, spielt Neuer im deutschen Spiel eine umfassendere Rolle. In England behandelt die „Daily Mail“ Neuer in ihrem Bericht zum Algerien-Spiel folgerichtig nicht als Torwart: „Beckenbauer, Matthäus und jetzt Neuer! Der starke Keeper setzt die Reihe starker deutscher Abräumer fort.“ Ähnlich hält es „Zeit online“ im Resümee seines Live-Blogs zum Spiel: „Die wichtigste Nachricht: Deutschland steht im Viertelfinale der WM. Die zweitwichtigste Nachricht des Abends: Deutschland hat wieder einen Libero. Nach all den langen Jahren der Doppel-Sechs, der Vierer-, Fünfer- und Deutschlandkette hat Joachim Löw endlich erkannt: Manuel Neuer ist im Tor verschenkt.“
Die Taktikfreaks von „Spielverlagerung.de“ analysieren: „Durch die schlechte Staffelung (besonders in der ersten Halbzeit, Anm. d. A.) und das Aufrücken der Außenverteidiger hatte das deutsche Team Probleme, ins Gegenpressing zu gelangen. Es tummelten sich viele Spieler vor dem Ball, speziell nach Ballverlusten im Mittelfeld. Algerien hebelte das Gegenpressing über einen einfachen Pass aus, um danach direkt den Ball in die Spitze zu schlagen. Hier hatten sie sich Per Mertesacker als langsamsten Verteidiger des deutschen Teams ausgeschaut. Slimani rückte oft nach links, während Linksaußen Soudani asymmetrisch höher agierte als sein Gegenüber Feghouli. Mit ihrer hohen Geschwindigkeit starteten sie in Laufduelle mit Per Mertesacker, der sie nicht halten konnte. Mustafi konnte aufgrund seiner hohen Positionierung hier meist nicht eingreifen. Dass dieses taktische Mittel der Algerier nicht aufging, lag maßgeblich an Manuel Neuer. Er zeigte eine beeindruckende Partie als mitspielender Torwart und fing sämtliche Bälle hinter der Abwehr ab. Seine Positionsbeschreibung trifft wohl am ehesten der Begriff Libero; ein freier Spieler hinter der Abwehr, der Bälle abläuft und Gegenstöße einleitet.“
„Spielverlagerung.de“ sieht Neuers spektakulären Auftritt aber nicht nur unter dem Aspekt einer schwachen Vorstellung seiner Vorderleute: „Es muss auch gesagt werden, dass sich das deutsche Team der Qualitäten von Neuer bewusst ist. Die hohe und sehr breite Stellung der Verteidiger im Spielaufbau wird erst durch Neuer ermöglicht; er fängt die relativen Geschwindigkeitsdefizite und den riskanten Spielaufbau auf. Das Spiel mit einer Torwartkette ist nicht der letzte Rettungsanker, sondern genau so vom deutschen Team gewollt.“
Der „kicker “ titelt „Die falsche 5“ und kommentiert: „Deutschland diskutierte über die falsche 9, jetzt über die ,FALSCHE 5‘. Im Stile eines Liberos prägte Manuel Neuer die Partie gegen Algerien. (…) Seine 1,93 m sind ein Gardemaß für einen Torhüter. Er ist ein Riese mit seiner Gestalt und seinem Torwartspiel. Aber ist dieser deutsche WM-Auserwählte, zum dritten Mal bei einem großen Turnier, nicht weitaus mehr als ein Torhüter? Zusätzlich ein Ausputzer oder Libero? Eine Nummer 1 plus eine Nummer 5 in Zeiten, da so viel über die falsche 9 diskutiert wird? Keeper Neuer stärkt seine Vorderleute als elfter Feldspieler.“
Cathrin Gilbert („Die Zeit“) sieht gar eine Zeitenwende; für sie hat Neuer im WM-Achtelfinale „das Spiel des letzten Mannes revolutioniert. (…) Manuel Neuer geht auf dem Platz Wege, die Torhüter vor ihm nicht kannten. Wenn es notwendig ist, deckt der Schlussmann allein jenes Drittel der eigenen Hälfte ab, in dem sonst die gesamte deutsche Abwehr steht. Oder er ist derjenige, der das Spiel schnell macht, mit hohen Abstößen oder mächtigen Abwürfen Konter einleitet.“ Oliver Fritsch schreibt Ähnliches auf „Zeit online“: „Dass der moderne Torwart nicht mehr auf der Linie klebt, weiß man selbst im traditionsverliebten Deutschland schon einige Jahre. Dass einer aber fast das gesamte Abwehrdrittel