Neuer. Dietrich Schulze-Marmeling
das künftige Generationen beeinflussen wird. Kinder, die das Spiel gesehen haben, wollen ab sofort Tormann werden – und zwar so wie Neuer. (…) Dass Neuer, der Weltbeste seines Fachs, seiner Elf in Brasilien ein Spiel gewinnen würde, war zu erwarten. Doch auf welch beispiellose Art, konnte wohl keiner ahnen. Er tat es fast gar nicht mit den Händen, denn wo er es tat, darf er sie gar nicht benutzen. Neuer gewann als Ausputzer vor dem Strafraum, als Manuel, der Libero. Vielleicht muss man nach diesem Spiel sogar einen neuen Begriff für Tormann ausdenken.“
Dass ein Torwart ein derartig epochales Spiel auf dem Rasen ausgerechnet eines brasilianischen Stadions hinlegt, entbehrt nicht eines gewissen Charmes. Brasilien ist nicht gerade das Land der Torhüter. Lange Zeit galt hier der Mann mit den Handschuhen als Nicht-Fußballer und Spielverderber. Félix Miélli Venerando, Brasiliens Nr. 1 beim WM-Gewinn 1970, behauptete gar, in Brasilien werde Torwart, wer als Feldspieler zu schlecht sei. Wer auch nur ein bisschen Fußball spielen konnte, der mied das Tor. In einer kreativen, spielfreudigen und torhungrigen Spielkultur war der Keeper als reiner Tore-Verhinderer eine Spaßbremse und ein Spielverderber. Im Porto Alegre demonstriert Neuer, dass es auch anders geht. Dass ein Torwart sehr wohl ein Fußballspieler sein kann, der sich am Spiel aktiv beteiligt.
Lob und Skepsis
Manuel Neuer wird nach dem Algerien-Spiel weltweit applaudiert. Aber daheim erscheint es manchmal so, als müsse er sich für seine Spielweise rechtfertigen. Vielleicht ist das Denken der Fußballöffentlichkeit noch zu stark von den Darbietungen eines Oliver Kahn geprägt. Außerdem ist Neuer nicht einfach nur ein mitspielender Torwart. Mit dem Fuß sind mittlerweile viele Keeper ordentlich. Aber kaum jemand interpretiert das Mitspielen so radikal und beherrscht es so gut wie Neuer.
Vor dem Viertelfinale gegen Frankreich sitzt Neuer mit Torwarttrainer Andreas Köpke auf dem Podium der Pressekonferenz. Köpke betrachtet es als seine Aufgabe, ein nervöses Volk und dessen Fachjournalisten zu beruhigen, indem er eine Laudatio auf Neuers Spiel hält: „Er verarbeitet die nicht immer leichten Rückpässe souverän.“ Sein Spiel sei nicht ohne Risiko, aber es zahle sich aus. Der Ertrag sei höher. Neuers Spiel mache ihn nicht nervös. „Ich habe da draußen immer die Ruhe, man wird nicht nervös, weil man immer das Gefühl hat, er weiß, was er tut.“ Neuer sei der beste Libero seit Franz Beckenbauer, was der Gelobte cool mit einem Griff in die deutsche Taktikgeschichte kontert: „Nach Franz Beckenbauer gab es eine Zeit lang keinen Libero, deshalb ist es nicht das beste Kompliment.“
Die Redaktion des „kicker“ diskutiert über Neuer kontrovers: Für Oliver Hartmann hat Neuer gegen Algerien nicht die richtige Balance zwischen Herauslaufen und Verharren gewahrt. „Neuers Auftritt gegen Algerien war diesbezüglich ein Tanz auf der Rasierklinge, und niemand wird bestreiten können, dass er seinen Strafraum in den 90 Minuten auch das ein oder andere Mal zu oft verließ. Wenn Oliver Kahn bei Neuer zu hohe Risikobereitschaft anmahnt, weiß er, wovon er spricht. Bei der WM 2002 wuchs im damaligen Weltklassekeeper mit jedem Galaauftritt das Gefühl der Unbesiegbarkeit – das dann aber mit dem folgenschweren Patzer im Endspiel gegen Brasilien schlagartig in sich zusammenfiel.“ Hartmanns Kollege Karlheinz Wild ist anderer Meinung: „Mit Aktionen, die Neuer immer wieder und immer öfter in seinem Bundesliga-Alltag einflicht, verblüffte er nun im WM-Achtelfinale gegen Algerien die staunende Fußballwelt. (….) Für Neuer bedeutet diese außergewöhnlich offensive Interpretation des Torhüter-spiels eine Selbstverständlichkeit, sie gehört zur Identität des Torwarts Neuer, der sich durchaus des Gefahrenpotenzials dieses Stils bewusst ist: Kommt er zu spät in ein solches Alles-oder-nichts-Duell, sieht er Rot. Dieses Risiko nimmt er in Kauf, weil er mit seinem Stil den Seinen weniger schadet als hilft: als Ausputzer, als Libero, als 11. Feldspieler. Wenn die Nationalelf in Brasilien Großes erreichen will, ist Neuer der Schlüsselspieler: als besonderer Keeper mit Hand und Fuß.“
Karlheinz Wild wird recht behalten. Am 13. Juli 2014 wird Deutschland mit Keeper Manuel Neuer zum vierten Mal Weltmeister.
KAPITEL 2
Monaco? Buer-Mitte!
Manuel Neuer stammt aus Gelsenkirchen. Sein Elternhaus steht in einem ruhigen Abschnitt der Allensteiner Straße, zwischen zwei Kleingartenanlagen und in der Nähe der Gelsenkirchener Fachhochschulen. Manuels Vater Peter Neuer stammt aus Oberschwaben und ist 1958 nach Gelsenkirchen gekommen, als Sohn eines Friseurs, der zuvor in seinem oberschwäbischen Heimatort zwei Läden betrieben hatte. Über verwandtschaftliche Kontakte kam die Familie nach Gelsenkirchen, wo Großvater Neuer ebenfalls einen Friseurladen eröffnete.
1958 ist auch das Jahr, in dem Schalke bis heute letztmalig Meister wurde. Peter Neuer war damals elf und schaute zu, wie die Sieger am Bahnhof in Gelsenkirchen empfangen wurden. Wie sein Vater erlernte Peter Neuer zunächst das Handwerk eines Friseurmeisters. Später wechselte er zur Polizei und diente in dem Einsatzzug, der bei Großereignissen ausrücken muss. Hierzu gehörten viele Jahre auch die Heimspiele von Schalke 04 im Parkstadion.
Zwischen Ruhrgebiet und Münsterland
Mit „Gelsenkirchen“ ist der Heimatort Manuel Neuers nur unzureichend benannt. Genauer muss es heißen: Gelsenkirchen-Buer. Ein Bindestrich und vier zusätzliche Buchstaben, die einen kleinen, aber feinen Unterschied markieren. Als Neuer anlässlich seines Wechsels zum FC Bayern zu seiner vermeintlichen Ultra-Vergangenheit befragt wird, antwortet er: „Bei mir muss man einfach sehen: Ich komme ja nicht aus Gelsenkirchen, sondern aus Gelsenkirchen-Buer. Das ist das Monaco von Gelsenkirchen. Das glauben nur leider viele nicht, die nicht aus Buer stammen.“
Buer das „Monaco Gelsenkirchens“ zu nennen, ist nicht so abwegig, wie es im ersten Moment klingen mag. Zwar halten viele Nicht-Ruhrgebietler das Revier städtebaulich und sozial für eine monolithische Einheit. Wer dort aufgewachsen ist, weiß jedoch, dass sich die Städte, aber auch Stadtteile sehr stark unterscheiden. Gerade Gelsenkirchen gilt als „extrem binnendifferenziert“, wie es der dort lebende Stadt- und Fußballhistoriker Hartmut Hering formuliert.
Während sich im südlichen Ruhrgebiet, entlang der Hellwegzone, die besseren Gegenden eher im Süden der Städte befinden, ist es in Gelsenkirchen wie auch im Rest der Emscherzone umgekehrt. Dort bilden Emscher und Rhein-Herne-Kanal eine soziale und geographische Binnengrenze. Die schon ins Münsterland übergehenden Gebiete nördlich davon gelten als „besser“. Hier liegt auch Buer, das zwar nicht vergleichbar ist mit den gediegenen Gegenden im Süden Essens und Dortmunds und schon gar nicht mit München oder Monaco. Aber Buer ist anders als andere Stadtteile Gelsenkirchens.
Ursprünglich war es ein altes südmünsterländisches Handwerker- und Bauerndorf, das über eine gewisse Tradition der Selbstverwaltung und damit auch über ein tradiertes lokales Selbstbewusstsein verfügte. Buer wäre vermutlich noch heute ein unbedeutendes Dorf, wenn der Bergbau im 19. Jahrhundert nicht auch das Gebiet nördlich der Emscher erfasst hätte. Schon 1858 hatte der irische Unternehmer William Thomas Mulvany die erste Gelsenkirchener Zeche „Hibernia“ (lateinisch für „Irland“) abgeteuft, und innerhalb von 20 Jahren war das gesamte Gebiet südlich der Emscher bergbautechnisch erschlossen. Zu Beginn dieser Industrialisierung war Gelsenkirchen noch ein kleines Dorf, ebenso wie die angrenzende Gemeinde Schalke, wo die Zeche „Consolidation“ entstand, die 50 Jahre später für den FC Schalke 04 eine wichtige Rolle spielen sollte.
Nördlich der Emscher begann der Bergbau später, weil dort das Deckgebirge über der Kohle und damit auch die Abbaukosten höher waren. Als erste nahm 1875 Zeche „Hugo“ in Beckhausen ihren Betrieb auf, und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in den bislang kaum besiedelten Bauernschaften rund um Buer weitere Schachtanlagen. Um die Arbeiter unterzubringen, wurden Wohngebiete hochgezogen. Daraus entwickelten sich die Orte Hassel, Resse, Erle, Beckhausen, Schaffrath und Scholven, die sich fortan wie Satelliten um die „Sonne“ Buer, dem heutigen Stadtteil Buer-Mitte, gruppierten. Ab 1911 nannte sich das ganze Gebilde stolz „Buer in Westfalen“.
In Buer-Mitte selbst wurden keine Zechen oder andere Industrieanlagen errichtet,