Spuren im Schnee. Carlo Andersen
sofort verstummte.
»Der Hund hat also die Stimme wiedererkannt«, sagte Helmer und warf einen Blick zur Seite.
»Ja«, gab Jan geistesabwesend zurück, während er Lis musterte, die am ganzen Leibe bebte. Er beugte sich zu seiner Schwester hinüber und streichelte beruhigend ihre Hand. »Frierst du, Lis?«
»Nein ...«
»Aber du zitterst ja.«
Lis schaute mit bangen Augen auf die große, gebeugte Gestalt, die gerade um eine Wegbiegung verschwand. Dann fragte sie unsicher: »Hast du ihn nicht erkannt, Jan?«
»Doch«, antwortete Jan widerstrebend. »Das war Niels Boelsen. Glaubst du, daß er mich wiedererkannt hat, Onkel?«
»Höchstwahrscheinlich«, erwiderte Helmer mit belegter Stimme. »Man vergißt sicher nicht so leicht einen Menschen, durch den man anderthalb Jahre ins Gefängnis gekommen ist.«
»Seit wann ist er denn wieder draußen?« fragte Erling, dem auch nicht ganz wohl in seiner Haut war.
»Seit einer Woche. Der Großknecht Anders erzählte es mir; aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Schlagt ihr es euch auch aus dem Kopf, Kinder. Von dieser Seite habt ihr nichts zu befürchten.«
»Ob er nicht doch auf Rache sinnt?« fragte Lis angstvoll.
»Dummes Zeug, Kind!« entgegnete Helmer lachend; aber sein Lachen klang nicht ganz überzeugend.
Drittes kapitel
Klondyke-Carl
Es begann schon zu dämmern, als der Schlitten durch den Torbogen von Raunstal fuhr. Die Glocken klingelten lustig unter dem Steingewölbe und lockten eine kräftig und derb aussehende Dame auf die Freitreppe. Das war Fräulein Madsen, die Haushälterin von Raunstal, die allgemein »Mads« genannt wurde, worüber sie keineswegs beleidigt war.
»Willkommen auf Raunstal, Kinder!« rief sie herzlich und ging den Gästen entgegen.
Nachdem sie Jan und Lis begrüßt hatte, ergriff sie Erlings Hand und schüttelte sie kräftig. »Na, Erling, du siehst ja nicht aus, als ob du Not gelitten hättest, seit du hier warst! Du kannst dich darauf verlassen, daß ich deine Lieblingsspeisen noch weiß, obwohl es anderthalb Jahre her sind, seit ich sie dir vorsetzte. Hoffentlich ist dein Appetit immer in Ordnung?«
»Ja, besten Dank«, murmelte Erling, dem ein Klumpen im Halse saß.
»Heute abend bekommst du Apfelkuchen mit Schlagrahm, und ich habe schon das größte Glas Erdbeerkonfitüre für dich aus dem Keller geholt.«
»Oh!« stöhnte Erling und rollte verzweifelt die Augen. »Aber ich mache gerade ...«
Christian Helmer unterbrach ihn lachend: »Mads schließt immer alle Menschen ins Herz, die ihre Kochkunst zu würdigen wissen. Du hast also einen ganz besonders großen Stein bei ihr im Brett, Erling. Versprich mir, daß du sie nicht enttäuschen wirst.«
»Finden Sie nicht, daß Erling abgenommen hat, Fräulein Madsen?« fragte Lis mit ihrer unschuldigsten Miene.
»Ja, wahrhaftig!« rief Mads, nachdem sie den unglücklichen Erling eingehend gemustert hatte. »Du Armer, in Kopenhagen gibt es eben nicht so gute, nahrhafte Sachen wie hier auf dem Lande. Aber warte nur, ich werde schon dafür sorgen, daß du wieder zu Fleisch kommst.«
»Au!« schrie Lis auf, als Erling sie nachdrücklich in den Arm kniff.
Eine riesige Gestalt mit breiten Schultern trabte in diesem Augenblick auf die Gruppe zu. Das war der Großknecht Anders, der die Gäste nicht minder herzlich willkommen hieß, ehe er den Schlitten zur Remise hinüberlenkte. Mit lauter Stimme sang er in völlig falschen Tönen eins der Lieder, die er auf seinem Repertoire hatte, und die Kinder lachten. Es war richtig gemütlich, Anders’ Gesangsleistungen wieder einmal zu hören.
»Zu einem Caruso hat Anders sich inzwischen ja nicht entwickelt«, bemerkte Erling.
»Ich finde eher, mit den Jahren wird es immer schlimmer«, lächelte Helmer, »aber Anders war von jeher ein begeisterter Sänger. Ich glaube gar, er trägt sich mit dem Plan, in Silkeborg Gesangstunden zu nehmen.«
»Das arme Silkeborg!« antwortete Erling mit Überzeugung.
»Nun wollen wir aber hineingehen«, mahnte Mads. »Sonst endet es noch damit, daß wir festfrieren.«
Sie ging die Freitreppe hinauf, gefolgt von Lis.
Jan blickte sich suchend um. Dann wandte er sich an den Onkel und fragte: »Wo ist eigentlich Carl?«
»Carl? Ja, den solltet ihr wirklich rasch begrüßen. Lauft zum Kuhstall hinüber und schaut nach, ob er dort ist. Aber bleibt nicht zu lange fort. Mads freut sich schon darauf, zu sehen, wie ihr beim Abendbrot einhaut.«
»Ja, aber, Herr Helmer, ich mache doch gerade ...« begann Erling zaghaft.
»Schon gut, schon gut, mein Junge«, fiel Helmer lachend ein. »Lauft nur jetzt hinüber und begrüßt euren Freund. Anders trägt eure Koffer ins Zimmer hinauf.«
Die Knaben liefen über den sauberen Weg auf die Stalltüre zu. Jan führte, Erling kam keuchend einige Schritte hinterdrein.
Am Stalleingang prallte Jan beinahe mit Carl zusammen, der seine Freunde offenbar durch das Fenster erspäht hatte.
»Guten Tag, Carl, alter Freund!« grüßte Jan und gab Carl einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Herrlich, dich wiederzusehen!«
»Ganz meinerseits, Jan«, antwortete Carl mit breitem Lächeln. »Guten Tag, Erling.«
»Wie geht’s, Klondyke-Carl?« grüßte Erling munter. »Hast du gesehen, Jan, wie der Bursche sich entwickelt hat? Er muß ja einen Ochsen mit einem Faustschlag umlegen können.«
»Das habe ich noch nie versucht«, grinste Carl, »aber ich kann zwei Säcke Korn auf einmal auf den Mühlspeicher hinauftragen.«
»Zwei Säcke?« wiederholte Jan und betrachtete den Freund bewundernd. »Das ist ja genauso viel, wie Anders tragen kann.«
»Nein, er kann drei aufs Mal schleppen«, berichtigte Carl bescheiden. »In zwei Jahren werde ich das vielleicht auch fertigbringen. Ich bin sehr froh, daß du deinen Onkel veranlaßt hast, mich als Eleven aufzunehmen, Jan. Ich weiß nur nicht, wie ich dir danken soll ...«
Carl begann zu stammeln, und Jan versetzte ihm abermals einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Da gibt’s wirklich nichts zu danken, Carl. Du warst uns immer ein guter Freund, und da du unbedingt Landwirtschaft erlernen wolltest, war es ja ganz natürlich, daß ich dich meinem Onkel empfahl.«
»Doch, Jan, ich schulde dir Dank für so vieles, und ich schulde auch deinem Onkel Dank ... aber es wird schon ein Tag kommen, an dem ich es euch vergelten kann.«
»Es ist Dank genug, wenn du deine Arbeit gut machst, und daran zweifle ich nicht.«
»Ist dein Onkel zufrieden mit mir?«
»Oh, da kannst du sicher sein!«
Carls ehrliche blaue Augen leuchteten vor Freude. »Ich will noch tüchtiger werden«, erklärte er. »Du kannst mir glauben, Jan, die Arbeit hier ist etwas anderes, als in Kopenhagen mit dem Fahrrad herumzugondeln und Waren auszutragen. Wenn ich abends zu Bett gehe, freue ich mich immer schon aufs Aufstehen. Meine Kameraden hier auf dem Hof sind prächtige Burschen, und die Tiere, Jan, die Tiere ... oh, mit denen bin ich gut Freund. Wir haben einen feinen Bestand hier. Herr Helmer hat bei der letzten Jungtierschau drei Preise gewonnen.«
»Vermißt du nicht manchmal die Klondyker Buben?« fragte Erling.
»Nein ... jetzt nicht mehr, nur in den ersten Wochen haben sie mir oft gefehlt. Das waren ja auch wirklich flotte Kerle. Wir hatten viel Spaß miteinander, und an tollen Ereignissen fehlte es nie.«
»Hier auf Raunstal geht es wahrscheinlich friedlicher zu«, meinte Jan mit einem kleinen Lächeln.
Carl