Die Frau am Meer. Ursula Isbel-Dotzler
Ursula Isbel-Dotzler
Die Frau am Meer
SAGA Egmont
Die Frau am Meer
Copyright © 2005, 2018 Ursula Isbel-Dotzler und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711804476
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
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1
Immer wieder, in vielen Nächten, träumte ich den gleichen Traum. Ich nannte ihn den »Pferdetraum«. Er begleitete mich schon mein ganzes Leben lang. Vielleicht hatte ich ihn sogar als Säugling schon geträumt oder im Bauch meiner Mutter, auch wenn ich mich daran natürlich nicht erinnern konnte. Manchmal blieb er mehrere Monate aus, dann wieder kam er in Serien, Nacht für Nacht.
Ich kann nicht sagen, dass es Albträume waren, obwohl sie seltsam und beängstigend auf mich wirkten. Seltsam, dieses Wort fiel mir stets ein, schon sehr früh, als ich noch klein war, wenn ich über diesen Traum nachdachte oder davon erzählte. Bald hieß er in der ganzen Familie nur »Fannys seltsamer Pferdetraum«.
Die Träume begannen stets damit, dass ich einen steil abfallenden Pfad zwischen windzerzausten Büschen hinunterritt, der voller Sand und Geröll war. Ich saß auf einem isahellfarHenen Pferd. Und obwohl ich in Wirklichkeit nie ein Pferd besessen hatte und noch nie geritten war, spürte ich die Bewegungen der blassgoldenen Stute deutlich unter mir und wusste, wir gehörten zusammen, sie und ich.
Um uns her herrschte Dämmerung, früher Morgen oder früher Abend, ein graues, bleiches Licht. Der Wind wirbelte mein langes rotes Haar hoch und ließ die Mähne der Stute flattern, sodass die Strähnen meine bloßen Arme berührten.
Ich roch das Meer und spürte die Feuchtigkeit der Gischt, die der Wind uns zutrug, auf meinen Lippen; ja, ich schmeckte das Salz, obwohl es doch nur ein Traum war.
Die ganze Zeit über wusste ich, dass etwas Schlimmes geschehen würde und dass ich versuchen musste, es zu verhindern.
Der Ablauf war immer gleich. Wir galoppierten den Hohlweg hinunter, der sich plötzlich zu einer zerklüfteten Bucht öffnete, in der das Meer brandete und gurgelte und zischte. Hoch über uns, auf einem Felsen, der wie ein Turm aus den Wellen ragte, waren die Überreste einer verfallenen Burg.
Das Wasser war dunkel in der Dämmerung, fast schwarz. Kälte stieg von ihm auf. Ich zügelte mein Pferd, schwang mich zu Boden, geschmeidig und schwerelos, ließ die Stute am Strand zurück und begann, über die rauen Felsbrocken zu klettern, hin zu der Stelle, wo eine Treppe begann, die in den Fels gehauen war – dreihundertzwanzig Stufen bis hinauf zum alten Festungstor. Ich kannte die Zahl.
Gegen den stürmischen Wind kämpfte ich mich nach oben, Stufe um Stufe.
Die Treppe war sehr steil und schlüpfrig von der Gischt, grob behauen und an einer Seite durch ein Seil gesichert. Dazwischen sah ich die Brecher gegen die Klippen schlagen, tiefer und immer tiefer, je höher ich kam.
Die Angst trieb mich vorwärts, bis ich kaum noch Luft bekam, bis meine Knie zitterten und meine Brust bei jedem Atemzug schmerzte. Ich musste hinauf zu den Mauerresten, die sich hoch über dem Meer auf der Felsspitze wie die Zahnstümpfe eines Riesen türmten.
Es war lange her, seit Menschen dort oben gelebt hatten. Jetzt hausten nur noch Seevögel zwischen den bröckelnden Steinen, doch ich wusste, sie war dort oben. Ich musste sie erreichen, ehe es zu spät war …
Und immer endete der Traum auf der letzten Stufe, noch ehe ich den verfallenen Torbogen erreichte. Ich erwachte mit dieser Angst, dieser verzweifelten Gewissheit, dass etwas Furchtbares passieren würde, wenn ich nicht rechtzeitig kam.
Doch wer die Person war, die ich suchte, und wovor ich sie bewahren wollte, blieb mir verborgen. Und weil ich stets an der gleichen Stelle erwachte, glaubte ich auch, dass ich das Ende der Geschichte nie erfahren würde.
2
Ich erinnere mich noch genau, dass ich in der Nacht, ehe Onkel Haralds Anruf kam, nach fast einem halben Jahr Pause wieder den Pferdetraum träumte.
Es war kurz vor den Sommerferien. Wir saßen auf dem Balkon beim Frühstück und redeten über den Urlaub. Noch waren wir uns nicht einig, wer wohin fahren sollte. Unsere Eltern wollten in die Bretagne, wo eine Kollegin meiner Mutter ein Ferienhaus hatte, das wir mieten konnten. Tobias, mein Bruder, überlegte, ob er nicht lieber mit Freunden nach Kalifornien fliegen sollte.
Ich hatte eigentlich keine besondere Lust wegzufahren, denn ich erholte mich gerade von einem Anfall von Liebeskummer. Im Grunde wäre ich am liebsten während der kommenden Wochen in einen Dauerschlaf verfallen und erst wieder aufgewacht, wenn die Ferienzeit vorüber war; so wie ein verwundeter Bär, der sich in seine Höhle zurückzieht.
»Ihr tapert doch nur endlos durch die Landschaft und besichtigt altes Gemäuer«, sagte mein Bruder. »So was Langweiliges kann ich immer noch machen, wenn ich mit dem Leben abgeschlossen habe und gruftimäßig mit dem Kopf wackle.«
Unser Vater seufzte. »Na gut, okay. Dann fährst du eben nach Kalifornien. Aber denk an das, was wir ausgemacht haben: Du finanzierst die Reise selbst. Wir übernehmen nur den Flug. Und du, Fanny? Du wirst doch nicht allein zu Hause herumhängen?«
»Ja«, sagte meine Mutter und strich sich das blonde Haar aus der Stirn. »Komm doch mit. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dich ganz allein hier zurückzulassen.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Vater verschwand durch die Balkontür. Wir hörten seine gedämpfte Stimme aus dem Wohnzimmer, konnten aber nicht verstehen, was er sagte. Tobias schlug großzügig vor, ich könnte ja mit ihm und seinen beiden Freunden nach Kalifornien fliegen, vorausgesetzt ich beteiligte mich an den Kosten für den Landrover, hielt mich bescheiden im Hintergrund und sagte zu allem Ja und Amen. Ganz so drückte er es zwar nicht aus, aber es war natürlich genau das, was er meinte.
»Nein danke«, sagte ich. »Kein Bedarf. Ich will euren Vatertagsausflug nicht stören.«
Dann kam unser Vater zurück. Ich merkte, dass er mich ansah, als er sich wieder an den Tisch setzte. »Harald hat angerufen«, sagte er.
Harald ist Vaters Bruder. Es kam nicht oft vor, dass er sich meldete. Onkel Harald war Auslandskorrespondent und deshalb naturgemäß viel unterwegs. Tobias nannte ihn nur die Wanderratte. Eigentlich war es ein Wunder, dass er eine Familie hatte. Im Grunde gab es dafür in seinem Leben kaum Zeit. Trotzdem hatte er eine Frau und zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Sie lebten in Cornwall, irgendwo an der Küste. Das heißt, Onkel Haralds Frau und seine Kinder lebten da. Er selbst war dort wohl nur ein gelegentlicher Besucher.
»Sieh an, die Wanderratte!«, sagte mein Bruder. »Von wo hat er angerufen? Aus einer Telefonzelle in der Wüste Gobi?«
»Nein«, erwiderte Vater. »Von seinem Haus in Cornwall. Und er hat ein Problem.«
»Sonst hätte er sich ja wohl auch kaum gemeldet«, warf Mutter ein.
Vater schnitt eine Grimasse. »Er muss für einige Zeit nach Asien. Viereinhalb Wochen, um genau zu sein. Und er möchte Helen mitnehmen.«
Helen ist Onkel Haralds Frau. »Schwierig ist es nur mit den Kindern. Sie möchten sie nicht impfen lassen und fürchten, dass sie sich in Asien sofort allerhand Krankheiten holen würden. Die beiden haben offenbar auch keine Lust mitzufahren. Die Frage ist nur, wer sich in dieser Zeit um sie kümmern soll.«