Die Frau am Meer. Ursula Isbel-Dotzler
um. »Fotos von der Burg? Das glaube ich nicht. Helen interessiert sich nicht fürs Fotografieren und ich benutze meine Kamera nur beruflich. Nein, sicher nicht. Wieso fragst du?«
»Die Burg kommt mir so bekannt vor«, murmelte ich. »Vielleicht habt ihr uns damals ja einen Bildband von Cornwall gezeigt.«
»Nicht dass ich wüsste. Aber Penruan ist ein beliebtes Motiv, weil es so romantisch und malerisch ist. In Reiseführern stößt man immer wieder auf Fotos von der Burg. Hättest du lieber Kaffee als Tee?«
Rian beobachtete mich unter seinen langen Wimpern hervor. »Tee, danke«, sagte ich.
Später führten sie mich durchs Haus. Es war wie ein Gang durch ein Museum, ebenso weitläufig und verwirrend und voll mit alten Sachen. Sally versprach, einen Plan für mich zu zeichnen, damit ich es leichter hatte, mich zurechtzufinden. Sie taute zusehends auf, während Rian sich noch immer abseits hielt, misstrauisch wie eine kleine Wildkatze.
Wir beendeten unseren Rundgang im Wohnzimmer. Die Kinder setzten sich vor den Fernseher und Onkel Harald gab mir zwei Briefumschläge. In dem einen, sagte er, wäre mein »Gehalt«, im anderen ein Geldbetrag für alles, was wir so nebenher brauchten – für Busfahrten, Eis, Süßigkeiten und Ausflüge mit dem Schiff.
»Mrs Potter besorgt die Lebensmittel, darum brauchst du dich nicht zu kümmern«, erklärte er mir. Dann bekam ich noch einen Zettel, auf dem alle wichtigen Telefonnummern und Adressen standen, ganz oben die Nummern der Hotels, in denen er und Tante Helen wohnen würden, und des Senders, für den Onkel Harald arbeitete.
»Da kannst du jederzeit eine Nachricht für mich hinterlassen«, sagte er. »Ich werde sofort verständigt, wenn du mich brauchst. Und das ist die Nummer unseres Hausarztes. Er wohnt im Hafenort Penbury, nur ein paar Meilen von hier.«
»Wie kommen wir nach Penbury?«, fragte ich.
»Es gibt einen Bus, der dreimal täglich verkehrt, nicht weit von Rhiannon an der Hauptstraße. Die Kinder zeigen es dir. Und Mrs Potter kann euch mitnehmen, wenn sie nachmittags nach Hause fährt.«
Aus dem Fernseher erklangen spitze Schreie. Das Gesicht eines zähnefletschenden Vampirs erschien in Großaufnahme. Blut troff aus seinen Mundwinkeln.
Sally lachte, Rian aber kauerte auf dem Teppich und starrte wie gebannt auf den Bildschirm.
Mit ein paar Schritten war Onkel Harald beim Apparat und schaltete ihn aus. »Ich will nicht, dass ihr euch solchen Schrott anseht, das wisst ihr genau!«, sagte er verärgert. »Kein Wunder, wenn ihr nachts Albträume habt. Fanny, bitte sorg dafür, dass die beiden in unserer Abwesenheit nicht ständig vor der Glotze sitzen. Solche Filme sind absolut tabu für sie. Habt ihr gehört, ihr zwei? Fanny hat Anweisung von mir, euch zu verbieten, dass ihr euch derartige Sendungen anseht. Kapiert?«
Sally nickte, Rian aber machte ein verstocktes Gesicht und tat, als hätte er nichts gehört. Ich wusste, er würde sich von mir nichts sagen lassen, jedenfalls nicht in diesem Punkt.
Dann kam Tante Helen ins Wohnzimmer. Diesmal trug sie einen ausgebeulten Trainingsanzug. Sie nickte mir nervös zu und sagte: »Harry, ich kann meinen Pass nicht finden!«
»Hast du in der linken oberen Schreibtischschublade nachgesehen?«
»Sicher, und dort hätte er auch sein müssen, aber da ist er nicht.«
Die beiden verschwanden. »Hast du ihn versteckt?«, fragte Sally im Flüsterton, sobald ihre Eltern die Tür hinter sich geschlossen hatten.
»Hab ich nicht«, erwiderte Rian. »Sie sollen nur fahren, ist mir doch egal!«
Ich sah ihn an und er starrte zurück. »Wenn du ihn versteckt hast, sag’s«, forderte ich ihn auf und kam mir wie meine eigene Großmutter vor. »Oder findest du es fair, dass die beiden jetzt das ganze Haus absuchen müssen?«
Er gab keine Antwort. Das war seine Art von Widerstand, er blieb einfach stumm. Ich kannte das von meinem Bruder Tobias.
»Hast du ihn oder hast du ihn nicht?« Sally plusterte die Backen auf. »Sag die Wahrheit oder ich sperre mein Zimmer ab und mach nachts nicht auf, auch wenn du kommst und noch so vor Angst schlotterst und an meiner Tür rüttelst!«
Rian griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Der Vampir schwang sich gerade über eine Dachrinne und flatterte mit elegantem Schwung in ein offenes Fenster. Ehe er Zeit fand, sein nächstes Opfer in die Kehle zu beißen und ihm Blut abzuzapfen, ging ich hin und schaltete den Fernseher wieder aus.
6
Am Morgen von Onkel Haralds und Tante Helens Abreise verschwand Rian. Tante Helens Pass war gefunden worden; er war zwischen irgendwelche Papiere gerutscht. Doch jetzt war Rian weg und alle suchten nach ihm.
»Dieses Kind kostet mich noch den letzten Nerv!«, klagte Tante Helen in komischer Verzweiflung.
»Er hat sich bloß versteckt«, meinte Sally. »Das tut er nur, weil er will, dass du hier bleibst, ganz klar.«
»Ich zieh ihm die Ohren einen Meter lang, wenn ich ihn finde!«, drohte Onkel Harald und stolperte über eine Reisetasche, die mitten in der Halle stand. »Verdammt, wer hat das Ding hierher gestellt?«
Tante Helen seufzte. »Du selbst, Darling. Wie viel Zeit haben wir noch?«
»In fünfunddreißig Minuten müssen wir los, ganz gleich, ob diese kleine Nervensäge bis dahin aufgetaucht ist oder nicht.«
Wir schwärmten wie die Pfadfinder in verschiedene Richtungen aus und suchten. Ich blieb Sally auf den Fersen, teils, weil ich mich weder im Haus noch im Garten auskannte, teils, weil ich vermutete, dass sie Rians Verstecke am besten von allen kannte.
Mittendrin tauchte Mrs Potter auf. Sie war eine knochige, unzugänglich wirkende Frau mit strähnigen nussbraunen Haaren und entzündeten Augenlidern. Ich merkte bald, dass sie die nervtötende Angewohnheit hatte, in ungleichmäßigen Abständen zu schnüffeln. Manchmal hatte sie richtige Schnüffelattacken, wie die Kinder es nannten.
Sie gönnte mir nur einen kurzen, abschätzenden Blick, ehe sie sich wie ein Hund umsah, der Witterung aufnimmt, und sagte: »Der hat sich im alten Hühnerhaus verkrochen, darauf könnte ich wetten!«
Wir trabten zum Hühnerhaus, einem windschiefen Anbau aus Holz, fast erdrückt von Efeuranken und einem Eibenbusch. Die Klappläden vor den winzigen Fenstern waren geschlossen, sodass wir vom hellen Morgenlicht plötzlich ins Dunkel kamen, als wir die Tür öffneten, und nichts als die schattenhaften Umrisse eines Holzstoßes und einen Haufen alter Gartenmöbel sahen.
»Rian, bist du hier?«, rief Onkel Harald. »Komm sofort raus oder du kannst was erleben, verdammt noch mal!«
Ich bezweifelte, dass er mit dieser Aufforderung viel Erfolg haben würde.
»Rian«, flehte Tante Helen, »sei lieb und komm heraus, ja? Findest du es nicht ein bisschen unfair, uns so unter Druck zu setzen? Wir haben doch alles mit euch besprochen und es sind ja auch nur vier Wochen. Und Fanny ist da, ihr werdet sicher eine Menge Spaß miteinander haben!«
Während sie noch redete, marschierte Mrs Potter in das düstere, staubige Innere der Hütte, zwängte sich zwischen einer Art Werkbank und einem Stapel Zaunlatten durch, bückte sich, wobei etwas polternd zu Boden fiel, und zog Rian hinter einer Kiste hervor.
»Hier haben wir dich, Bürschchen!«, sagte sie und schnüffelte triumphierend. »Mich führst du nicht an der Nase herum, mich nicht. Ich hab vier von deiner Sorte großgezogen.«
Unter heftigem Palaver kehrten wir zum Haus zurück. Rian erinnerte mich wieder an eine kleine Wildkatze, die jeden Augenblick unversehens fauchen und kratzen und um sich beißen kann, auch wenn er auf alle Fragen und Vorwürfe stumm blieb.
Ich war erleichtert, als wir die Abschiedszeremonien hinter uns hatten und das große schwarze Taxi um die Hausecke bog. Tante Helen und Sally hatten geweint, Rian hatte sich geweigert, Auf Wiedersehen zu sagen, Onkel Haralds Miene war von Minute zu Minute gereizter geworden, und Mrs Potter stand im Hintergrund und