Die Frau am Meer. Ursula Isbel-Dotzler
Vorhängen, die in üppigen Falten bis zum Boden reichten. Mein Zimmer hatte drei hohe Fenster. Vor dem mittleren stand ein Bambustisch mit einer Vase voller Wiesenblumen.
»Schön«, sagte ich, während Onkel Harald meinen Rucksack abstellte.
Er nickte flüchtig, ehe er sich zur Tür wandte. »Das Bad ist am Ende dieses Flurs«, sagte er noch. »Du teilst es mit den Kindern. In ungefähr einer halben Stunde gibt’s Essen. Mrs Potter hat Eintopf vorbereitet, glaube ich. Käse müsste auch noch im Kühlschrank sein.«
»Und wie finde ich das Speisezimmer?« Ich nahm an, dass in einem Haus wie diesem immer im Speisezimmer gegessen wurde, doch er erwiderte: »Wir essen in der Küche, wenn nicht gerade Gäste da sind. Sally wird dich abholen, damit du dich nicht verirrst.«
Als er verschwunden war, ging ich durchs Zimmer und schob eines der Fenster hoch. Sofort strömte wunderbar frische, prickelnde Luft herein, die nach feuchtem Laub und Seetang roch; und als ich den Kopf aus dem Fenster streckte, sah ich, dass jenseits des Gartens, hinter den Rhododendronhainen und einem Eichenwäldchen, das Meer war, eine steil abfallende Küste mit zerklüfteten Klippen und sandigen Buchten, die das Wasser aus den Felsen gespült hatte.
Das Rauschen und Tosen der Wellen war von hier kaum zu hören. Seevögel kreisten am Himmel, getragen vom Wind. Als ich mich weiter über den Fenstersims beugte und den Kopf nach rechts drehte, bemerkte ich in der Ferne, am Ende des Küstenstreifens, einen Felsen. Er ragte wie ein Turm aus dem Meer, gekrönt von den Mauerresten einer alten Burg.
Ich erkannte sie auf den ersten Blick. Obwohl ich nie zuvor an Cornwalls Küste gewesen war, hatte ich die graue Festung über dem Atlantik schon viele Male gesehen. Es war die Burg aus meinem Traum.
5
Sally stand wie ein scheuer Waldgeist vor meiner Tür, mit wirren dunklen Haaren und Koboldaugen in dem herzförmigen Gesicht. Ihre Haut war gebräunt; nur die Spitze ihrer Nase leuchtete weiß vor Aufregung. Erst später erfuhr ich, dass sie den Kosenamen »Pooka« hatte, ein keltisches Wort für Waldgeist.
»Hallo, Sally«, sagte ich. »Schön, dass du mich holen kommst.« Ich redete Englisch mit ihr. Englisch war immer schon mein Lieblingsfach gewesen. Ich hatte es spielend leicht gelernt, leichter als deutsche Grammatik. »Ohne dich würde ich mich wahrscheinlich hoffnungslos verirren und ihr würdet meine Gebeine eines Tages in irgendeinem Winkel finden.«
Sie lachte nicht und ich kam mir dumm vor. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich, während ich die Tür hinter mir zuzog.
Sie nickte stumm. Dann fiel mir nichts mehr ein. Schweigend trabten wir nebeneinander her, durch Gänge und dämmrige Seitenflure, über Podeste und dazwischen immer wieder drei oder vier Stufen abwärts, bis ich ganz wirr im Kopf war.
»Hast du dich hier schon mal verlaufen?«, fragte ich, als wir die Galerie mit den finsteren Ahnen erreichten.
Sie schüttelte den Kopf.
»Du müsstest jetzt elf sein, nicht? Lass mich mal nachrechnen. Als ihr uns besucht habt, warst du ungefähr drei …«
Sie sah mich kurz von unten herauf an. Dann erwiderte sie mit heller, ein wenig rauer Stimme: »Zehneinhalb.«
Die Küche war am anderen Ende des Hauses. Meiner Schätzung nach brauchte ich von meinem Zimmer aus fast zehn Minuten, um sie zu erreichen. Sie war schön, eine geräumige, gemütliche Küche wie in alter Zeit, mit dunklen Deckenbalken, einer Glastür, die in den Garten führte, einem langen, glänzenden Eichentisch mit zehn steiflehnigen Stühlen drumherum und einem gewaltigen offenen Kamin.
Onkel Harald stand am Herd, einen Kochlöffel in der Hand. Rian kauerte auf einem Stuhl und verteilte das Besteck.
»Helen isst nicht mit«, sagte mein Onkel. Er hob den Topfdeckel und ließ ihn sofort wieder fallen. »Verdammt, ist das heiß! Wo ist der Topflappen hingekommen? Sie schläft jetzt. Ich hoffe, es geht ihr bald wieder besser. Diese Migräneanfälle können bei ihr bis zu drei Tage dauern. Übermorgen müssen wir schließlich los.«
Ich erschrak, als mir bewusst wurde, dass ich bereits in zwei Tagen mit den Kindern allein in diesem riesigen Haus Zurückbleiben würde. Zwar war da noch Mrs Potter, die offenbar fast täglich vorbeikam, um sauber zu machen und zu kochen, aber hatte mein Vater nicht gesagt, sie wäre etwas wunderlich?
»Setz dich doch«, sagte Onkel Harald. »Rian, reich mir Fannys Teller, bitte.«
Die Kinder nahmen rechts und links von ihrem Vater Platz, mir gegenüber. Während ich den Bohneneintopf löffelte, beäugten sie mich verstohlen. Der Eintopf schmeckte gut; nur die Hammelfleischstücke schob ich an den Tellerrand.
»Isst du kein Fleisch?«, fragte mein Onkel. Er redete jetzt Englisch mit mir, wohl, damit die Kinder unserer Unterhaltung folgen konnten.
Ich erklärte in einem etwas holprigen Satz, dass ich Tiere liebte und mich deshalb nicht von ihrem Fleisch ernähren wollte. »Ich esse meine Freunde nicht«, sagte ich.
Sally und Rian starrten mich an. »Aha. Du scheinst eine junge Frau mit Prinzipien zu sein.« Onkel Harald schmunzelte.
Dann fragte ich nach der Burg. Eigentlich hatte ich während der vergangenen halben Stunde an nichts anderes gedacht und konnte es kaum erwarten, so viel wie möglich über sie zu erfahren.
»Penruan meinst du? Ja, man sieht das alte Gemäuer von hier aus, wenn das Wetter klar ist. Manche behaupten, König Arthus wäre dort geboren worden, aber ich glaube nicht, dass es stimmt. Es ist eine normannische Festung aus dem zwölften Jahrhundert, also nicht alt genug, um zur Arthus-Legende zu passen.«
»Vielleicht steht die Burg ja auf den Überresten einer anderen, älteren Festung«, sagte ich.
Onkel Harald warf mir einen überraschten Blick zu. »Das könnte natürlich sein. Aber ich denke, die Archäologen hätten das sicher längst herausgefunden. Man hat nur die Reste eines keltischen Klosters ganz in der Nähe entdeckt, auf einer kleinen Insel; dort soll auch eine Burg gestanden haben. Das sind die ältesten Funde.«
»Da oben wohnen die alten Geister«, sagte Rian unerwartet. Es war das erste Mal, dass ich ihn reden hörte, wenn man von dem Gequengel und Geschrei absah, mit dem er mich als Baby genervt hatte.
Unsere Blicke trafen sich. In seinen großen moorbraunen Augen stand ein unkindlicher Ernst. Es war, als wüsste er etwas, ein Geheimnis, das mir noch verborgen war.
»Unsinn!« Onkel Harald runzelte die Stirn. »Hör auf mit deinen ewigen Gespenstergeschichten, Junge! Du weißt, ich will das nicht hören. Du steigerst dich da in etwas hinein, was nicht gut für dich ist.«
Rians Gesicht verschloss sich. Er gab keine Antwort.
Sein Vater fügte hinzu: »Penruan ist ein merkwürdiger Ort. Ich habe mich oft gefragt, was das für Menschen gewesen sein mögen, die dort gelebt haben, so hoch über dem Meer, den wildesten Stürmen preisgegeben, abgeschnitten von der übrigen Welt. Wenn sie unter Leute wollten, mussten sie diese steilen, schlüpfrigen Stufen hinunterklettern, und das war vor allem bei Sturm oder im Winter, wenn die Felsen vereist waren, eine gefährliche Sache. Ich denke sowieso, dass sie in den Wintermonaten die Burg kaum verlassen konnten.«
»Aber das Essen?«, fragte Sally. »Wie haben sie das da hochtransportiert? Haben sie’s über die steile Treppe geschleppt?«
»Sie hatten wohl so etwas wie Seilwinden«, meinte Onkel Harald. »Sicher haben sie alles irgendwie hochgezogen. Sie mussten ja auch Holz für die Kamine in die Burg bringen und Futter für die Hühner und Schweine, die sie bestimmt gehalten haben; vielleicht sogar Kühe.«
»Kühe? Wie haben sie die denn raufbekommen?«, fragte Rian.
Sein Vater lächelte. »Das ist eine gute Frage. Vielleicht auch mit der Seilwinde, so wie sie das manchmal auf Schiffen machen.«
»Sie müssen furchtbar einsam gewesen sein da oben«, murmelte Sally nachdenklich. »Sicher waren sie traurig.«
Onkel Harald erhob sich, um Teewasser