Marcel Hirscher. Alex Hofstetter
nichts dem Zufall.“
2010 eröffnet Fröis seine eigene Praxis in Bludenz und will mit seiner Arbeit im Team Hirscher Schluss machen. „Aber nach vier Monaten hat mich Marcel angerufen und gefragt, ob ich nicht doch ab und zu Zeit hätte. Und genauso war’s 2017, als ich Papa wurde und ebenfalls aufhören wollte. Irgendwie sind wir nicht voneinander losgekommen.“
Dass Marcel dann 2019 die Nase voll hat, kann Fröisi äußerst gut verstehen. „Wenn du so gut wie Marcel bist, dann wird’s nicht schöner, sondern nur zäher. Du hast nicht eine Dopingprobe pro Monat, sondern 20. Weil sie irgendwas finden wollen. Und du hast nicht ein Interview, sondern 15. Je mehr Erfolg du hast, umso vollgefüllter ist dein Tag.“ Das ist auch bei den Rennen stets so gewesen. „Bis Marcel nach all diesen Terminen wie Pressekonferenz und Startnummernauslosung bei mir auf der Bank gelegen ist, war’s oft schon 19.30 Uhr. Und da hatte er immer noch die stinkigen Skisocken an! Und am nächsten Tag war wieder Rennen. So etwas würde es in anderen Sportarten niemals geben, zum Beispiel in der Formel 1. Manchmal frag ich mich schon, was der Skisport mit seinen Stars so anstellt …“
Im Team mit den Stars
In der Saison 2008/09 ist Marcel zum ersten Mal in seiner Karriere Mitglied der Weltcup-Trainingsgruppe. Nicht mehr wie bisher auf Blizzard-, sondern ab sofort auf Atomic-Ski. Die Trainer: Christian Höflehner und Mike Pircher. Die Teamkollegen: u. a. Manfred Pranger, Rainer Schönfelder, Reinfried Herbst, Mario Matt und Philipp Schörghofer. Papa Ferdl sagt: „Einer der Gründe, warum ich so oft wie möglich an der Seite von Marcel sein wollte, war, weil ich Angst vor Mobbing hatte. Aber in der obersten Liga, also bei den damaligen Stars, war diese Sorge absolut unbegründet. Ganz im Gegenteil. Benni, Manni, Mario, Reini … wie sie alle hießen, sie haben Marcel allesamt super aufgenommen und unterstützt. Das muss man ganz fair und ehrlich festhalten.“
Mikes Tagebuch-Eintrag, Juli 2008
Marcel hatte beim Training in Zermatt zwei linke Innenschuhe mit am Berg … na, bravo! Haben wir da einen Schlampertatsch im Team? Beim Trainingscamp auf dem Stilfserjoch quartieren wir uns auf 3.030 Meter Seehöhe ein! Das macht allen zu schaffen. Einzig die Südtiroler Kulinarik hilft in Form von Pasta und Rotwein über die Höhenstrapazen hinweg. Für die Athleten ist das natürlich keine Option. Marcels Schlafqualität leidet ungeheuer. Nach dem Ende des Trainingsblocks verlässt er extrem erledigt das Stilfserjoch. Nächstes Jahr nehmen wir eine Unterkunft 500 Höhenmeter weiter unten, vor allem für Marcel.
Marcel nimmt – unter anderem mit einem Zwei-Nächte-Trip zum USA-Riesentorlauf in Beaver Creek – Kurs auf seine erste WM, die im Februar in Val d’Isere steigt. Er geht aber in Frankreich leer aus: In der Kombi verspielt er mit einem Slalom-Ausfall die Medaillenchance, im Riesentorlauf schlittert er um sieben Hundertstel an Bronze vorbei, im Spezial-Slalom scheidet Marcel ebenfalls aus. Zum Saisonabschluss geht’s zur Junioren-WM nach Garmisch.
Mikes Tagebuch-Eintrag, 7. März 2009
Für sein Alter ist er natürlich schon extrem gut, und mit etwas mehr Glück und Courage wäre der erste Weltcup-Sieg in dieser Saison möglich gewesen. Um das Programm abzurunden, war ich mit Marcel noch bei der Junioren-WM in Garmisch-Partenkirchen. Seine Prioritäten haben sich aber zu diesem Zeitpunkt schon klar Richtung Weltcup gedreht und er nahm dieses Großereignis somit eher locker. Auffallend ist, wie wichtig es Marcel ist, dass ihn seine Laura begleitet. Silber im Super-G, Bronze im Riesentorlauf, Einfädler im Slalom – diese Ergebnisse waren für ihn aber eher nebensächlich.
Das Projekt Speed
Dass Marcel auch im Speed-Bereich, also in den schnellen Disziplinen Abfahrt und Super-G, herausragende Fähigkeiten und riesiges Potenzial hat, ist unbestritten. Sonst wäre es nicht möglich, dass er trotz – im Vergleich zur Konkurrenz – minimalstem Trainingsaufwand einen Weltcup-Super-G gewinnt (Beaver Creek 2015) und im Super-G-Weltcup 2015/16 den sechsten Endrang belegt – als zweitbester Österreicher. „Es war nie eine Frage des Trauens, sondern der mangelnden Vorbereitung und des mangelnden Trainings“, erinnert sich Marcel. „Eigentlich war’s immer eine gewisse Hassliebe.“ Angesichts des dichten Trainings- und Rennkalenders mit den beiden Hauptdisziplinen Slalom und Riesentorlauf bleibt Marcel einfach zu wenig Zeit, um auf den längeren Ski ernsthaft zu trainieren. Ein Schlüsselerlebnis gibt’s 2009 bei der WM in Val d’Isere. Da sieht der ÖSV die Chance, dass Marcel in der Kombi eine Medaille holt, und will den damals 19-Jährigen unbedingt ins Rennen schicken. „Ich hab mich extrem unter Druck gesetzt gefühlt.“ Kein Wunder, wenn man sich die raren Speed-Einsätze ansieht, die Marcel zu diesem Zeitpunkt auf dem Konto hat: vier FIS-Abfahrten (2005, 2006), eine Europacup-Abfahrt (2006) und vier Rennen bei österreichischen Meisterschaften (2006, 2007). Mit dieser Speed-Vorgeschichte in eine WM-Abfahrt gehen?
Vor dem ersten Training erhält Marcel dann einen Trainertipp, er solle bei einem gewissen Sprung „vorspringen“. „Das hab ich gemacht und bin dadurch so weit gesprungen, dass ich quasi im Gegenhang gelandet bin. Mir hat’s das Kreuz verrissen, ich bin mit dem Hinterkopf in den Schnee gekracht.“ Im Ziel folgt dann der große Ausbruch der Gefühle. „Ich hab mich hingelegt und zu weinen begonnen, weil ich mich einfach heillos überfordert gefühlt hab. Wenn du auf der Abfahrt nur mehr Passagier bist und nicht mehr Pilot, dann ist das kein sehr angenehmes Gefühl.“ Marcel verpasst in Val d’Isere eine Kombi-Medaille. Aber nicht wegen der Abfahrt, sondern weil er im Slalom auf dem Weg zu Edelmetall ausscheidet.
Es gibt aber einige andere Beispiele, bei denen sich das Risiko für Marcel und sein Team sehr wohl bezahlt gemacht hat. Siehe Kombi-Gold bei der WM 2015 in Beaver Creek. Oder Kombi-Gold bei der WM 2017 in St. Moritz. Oder natürlich Kombi-Gold bei Olympia 2018 in Pyeongchang. „All diesen Erfolgen sind aber stundenlange Diskussionen unseres Teams vorausgegangen. Wenn ich an die Vorabende vor den Kombis zurückdenke, unglaublich … Und ich hab meistens gesagt: Nein, lass mas, ich fahr nicht! Weil mir einfach die Trainingskilometer gefehlt haben und ich mich immer wieder von Neuem erinnern musste: ‚Okay, Marcel, wie geht das mit dem Springen nochmal?‘“ Es war stets eine Gratwanderung, ein Tanz auf der Rasiermesserklinge. „Okay, es ist alles gut ausgegangen. Aber eigentlich war das Risiko nicht verantwortbar, das wir eingegangen sind. Richtig vogelwild.“
Christian „Höfi“ Höflehner
Atomic
Eine Sesselliftfahrt in Naeba/Japan im Jahr 2005. ÖSV-Trainer Christian Höflehner schaut hinunter auf die Piste. Dort vergnügen sich die blutjungen Marcel Hirscher und Max Franz mit Saltos und anderen zirkusreifen Einlagen im Schnee. „Na, bumm, nicht schlecht die Burschen!“, denkt sich Höflehner. Es ist seine erste Dienstreise mit Marcel, der so wie Max beim „Japan Race Cup“ als Vorläufer im Einsatz ist. In den Jahren 2007 und 2008 wird die Zusammenarbeit intensiver. Marcel drängt in den technischen Disziplinen unaufhaltsam Richtung Weltspitze. Immer an seiner Seite ist Papa Ferdinand. „Die Integration der beiden in die ÖSV-Weltcup-Gruppen hat von Anfang an super funktioniert.“ Die akribische Arbeit am Material – man könnte im Fall der beiden Hirschers auch von Besessenheit sprechen – ist von Anfang an augenscheinlich. Höflehner, zu diesem Zeitpunkt Cheftrainer des Slalom-Teams: „Vom ersten Tag an wurden Dinge direkt am Hang verändert und mehrere Optionen gezogen, die nicht dem Standard entsprachen. Marcel und Ferdl dachten immer schon out of the box, wie man im Englischen so schön sagt.“ Von manchen gibt’s dafür Kopfschütteln und Unverständnis, daraus wird aber spätestens ein paar Jahre später Bewunderung.
mit Michaela Schiffrin und Christian Höflehner
Von April 2011 bis 2014 macht „Höfi“, einst als Konditionstrainer von Österreichs Tennis-Star Thomas Muster bereits höchst erfolgreich, eine Pause vom Ski-Zirkus. 2014 lockt dann Atomic mit einem Angebot, das er nicht ablehnen kann. Die „Roten“ mit Sitz in Altenmarkt machen