Elfenzeit 7: Sinenomen. Susanne Picard
Jedenfalls hatte der Trick mit der Ablenkung funktioniert, und sowohl David als auch sie selbst wurden zusehends munterer. Irgendwann konnte ihr Bruder sogar mitlachen. Das war gut, denn seit seine Seele wuchs, war er viel zu häufig mürrisch und verschlossen. Wenig elfentypisch.
Rian blieb stehen und warf einen intensiven Blick über die sonnenbeschienene Landschaft. Sie hätte angenommen, dass Menschen, die Schafe hielten, nicht allzu weit entfernt lebten. Doch die Weide zog sich scheinbar endlos über die grünen Hügel, die sich wiederum, nur unterbrochen von kleinen Wäldchen mit Palmen und anderen exotischen Gewächsen, bis zum Horizont zogen, der an einen nach wie vor blauweißen Himmel stieß.
Plötzlich blieb sie stehen, und David, der nicht aufgepasst hatte, lief auf sie auf.
»Was ist jetzt schon wieder?«
Rian verdrehte die Augen. »Streng deine Elfenaugen mal ein bisschen an. Zwischen den beiden Hügeln dort vorn steht nämlich etwas, das uns vielleicht weiterhelfen könnte.«
David kniff die Augen zusammen, dann glättete sich seine Stirn: Die Ecke eines Dachgiebels, der braunglänzend in einer Senke zwischen den mit graugrünem Gras bewachsenen Bodenwellen hervorlugte.
»Das ist ein Haus. Oder sowas in der Art jedenfalls. Nichts wie hin!«
Auf einmal war er wieder ganz er selbst, energiegeladen und nach vorn drängend. Mit langen Schritten steuerte er auf das Haus zu, und Rian sah zu, dass sie humpelnd hinterherkam.
3.
Die Anderen
Es gab kein Licht in den Gängen jenseits des Bunkers. Robert führte die Gruppe zusammen mit Anne an. Mit der Taschenlampe, die Nadja ihm gegeben hatte, leuchtete er den Boden und die Wände ab, warnte die Nachfolgenden vor Unebenheiten oder Unrat. Anne beachtete den Lichtstrahl kaum. Ihre magischen Sinne führten sie sicher durch das Labyrinth.
Nur vor Sackgassen bewahrten diese Sinne sie nicht, das stellte Robert frustriert fest, als die dritte Abzweigung in Folge in einer Wand aus Schutt und Mauerresten endete.
»Sackgasse«, sagte er. Leise Flüche und Seufzer antworteten ihm, dann drückten sich die Menschen an die Wände, um ihn, Anne und Nadja vorbei zu lassen. Sie waren zu den Anführern der Obdachlosen geworden, vielleicht, weil sie als einzige nicht die Nerven verloren hatten.
Wir haben Ragnarök überlebt, dachte Robert, wir schaffen auch Toby.
»Und jetzt?«, fragte Mike.
»Wenn du das nicht weißt«, sagte Krücke neben ihm schlecht gelaunt. Das Licht der Taschenlampe glitt kurz über sein Gesicht. Eine Ader pulsierte in seinem Hals. Robert hörte, wie das Blut durch seinen Körper rauschte und sein Herz schlug. Er roch Marihuana und Angst in Krückes Schweiß.
Mit jedem Tag verstand Robert seinen neuen Körper besser. Er fühlte sich, als habe er sein Leben in einem Fiat Panda verbracht und führe auf einmal Rolls Royce. Es gab so vieles zu entdecken, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.
Doch, dachte er im gleichen Moment. Ich sollte damit anfangen, es Nadja zu erzählen.
Er hatte es versucht, als sie aufgewacht war, und seither hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben. Enttäuscht war er darüber nicht. So lange sie es nicht wusste, konnte er so tun, als sei alles beim Alten, als würde sein Herz noch schlagen und sein Blut noch fließen. So, als wäre sein Körper mehr als nur ein zeitloses Grabmal, mehr als ein Stein, der noch hoch aufragen würde, wenn alles Lebendige um ihn herum längst verfallen war.
Robert schüttelte die Vorstellung ab. Er genoss seinen neuen Körper, seine Stärke, seine Empfindungen, seine erwachenden Sinne. Nur die Stille darin störte ihn. Sie verging, wenn er Blut trank. Dann begann sein Herz zu schlagen, schwach wie das eines Sterbenden, aber stark genug, dass er es hören konnte, wenn er die Augen schloss.
»Rechts oder links?«, fragte Anne neben ihm. Robert zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass sie in den Hauptgang zurückgekehrt waren. Von ihm zweigten sternförmig fünf Gänge ab. Da Mike sich nur an die Kreuzung erinnern konnte, aber nicht daran, welchen Gang er genommen hatte, waren sie die Möglichkeiten im Uhrzeigersinn abgegangen. Die ersten drei hatten sich als unpassierbar erwiesen.
»Rechts«, sagte Robert, während er in den Tunnel leuchtete, aus dem sie gekommen waren. Außer den mehr als zwanzig Obdachlosen, denen die Flucht in die Gänge gelungen war, sah er niemanden. Anfangs hatten sie die Verfolger noch gehört, doch irgendwann mussten die eine falsche Abzweigung erwischt haben. Seitdem hatte er sie weder wahrgenommen noch gerochen.
Gerochen. Wieder etwas, an das er früher nie gedacht hätte.
Anne ging vor. Robert folgte ihr, Nadja schloss zu ihm auf. Sie hielt den in eine Decke gewickelten Talamh im Arm.
»Geht es ihm gut?«, fragte Robert.
Sie nickte. »Er schläft.«
Der Streit, der sie dazu gebracht hatte wegzulaufen, stand zwischen ihnen, das spürte Robert. Es war dumm von ihm gewesen, den Vermittler zwischen Anne und Nadja spielen zu wollen. Er liebte Anne und hätte alles für sie getan, aber ihr Vorschlag, den Jungen nach Tara zu bringen, war alles andere als feinfühlig gewesen. Manchmal vergaß er, dass sie kein Mensch war. Ha, ha. Er war ja auch keiner mehr.
Schweigend gingen sie weiter. Die Obdachlosen folgten ihnen, verwirrt und verängstigt. Emma und Krücke schienen den Angriff als einzige verarbeitet zu haben. Krücke achtete darauf, dass die Menschen zusammenblieben, während Emma immer wieder andere tröstete.
»Schon mal daran gedacht, einen Artikel über die Tunnel zu schreiben?«, fragte er Nadja nach einer Weile.
»Nein, aber es wäre eine tolle Geschichte.« Sie schien froh zu sein, dass er sie von ihren Gedanken ablenkte. »Eine Subkultur unter der Hauptstadt. Menschen, die sich vollständig aus der Gesellschaft zurückziehen, weil sie mit dem Leben darin überfordert sind. Das könnte ich glatt an Die Zeit verkaufen.«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, zu intellektuell. Nimm RTLTV. Drogen und Gewalt hast du schon gefunden, und Sex gibt es hier bestimmt auch.«
Sie stieß die Luft aus, ein halbes Lachen, das ihn freute.
Anne drehte sich um. »Robert? Würdest du zu mir kommen und den Gang ausleuchten?«
Der Tunnel war so schmal, dass nicht mehr als zwei Leute nebeneinander gehen konnten. Robert war schon oft aufgefallen, dass es Anne nicht gefiel, wenn er mit Nadja sprach. Er fragte sich, ob sie eifersüchtig war oder ob er ihr erneut eine Menschlichkeit unterstellte, die sie nicht besaß.
»Was ist los?«, fragte er, als er neben Anne trat.
»Unsere Stimmen klingen anders.«
Robert leuchtete in den Tunnel hinein. Der Lichtstrahl glitt über unebenen, kahlen Stein, dann in einen Raum, der so groß war, dass er sich darin verlor.
Anne blieb stehen. »Etwas …« Sie zögerte und schüttelte den Kopf. »Zu viel Lärm. Ich kann nichts hören.«
Sie meinte die Menschen hinter ihr, deren Kleidung raschelte, die husteten, atmeten, sich manchmal flüsternd unterhielten.
»Was seht ihr?«, fragte Nadja.
Im gleichen Moment wurde es gleißend hell. Robert riss den Arm hoch, um seine Augen zu schützen. Menschen schrien, Anne duckte sich, Nadja wich zurück. Ein Hund begann zu bellen.
»Buh«, sagte Toby.
Robert blinzelte in die Helligkeit. Ein Dutzend Taschenlampen erleuchteten den Tunnel. Die Gestalten dahinter konnte er nur schemenhaft ausmachen.
»Wir dachten, wir hätten uns verlaufen«, fuhr Toby fort. Er leuchtete sein Gesicht von unten an, als wolle er eine Geistergeschichte erzählen. »Wir wollten uns in dem Raum nur ausruhen, eine rauchen und so, aber dann hörten wir euch. Ihr seid wohl woanders abgebogen als wir.«
Er grinste. Im Strahl der Taschenlampe wirkten die Schatten in seinem Gesicht