Maigret verliert eine Verehrerin. Georges Simenon

Maigret verliert eine Verehrerin - Georges  Simenon


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was erwarten Sie dann von der Polizei?«

      »Ich weiß es nicht. Ich vertraue Ihnen. Wenn Sie sich vielleicht ein paar Nächte im Treppenhaus aufhalten könnten …«

      Armes Mädchen, wenn sie sich vorstellte, es wäre die Aufgabe eines Kommissars der Kriminalpolizei, die Nacht in einem Treppenhaus zu verbringen, um das Gerede eines jungen Mädchens zu überprüfen!

      »Ich schicke heute Nacht Lucas zu Ihnen.«

      »Kommen Sie nicht selbst?«

      Nein! Hundertmal nein! Nun ging sie wirklich zu weit! Und ihre Enttäuschung, da hatten Maigrets Kollegen recht, ähnelte der Enttäuschung einer Verliebten.

      »Vielleicht wird es nicht heute Nacht sein, sondern erst in drei, fünf oder zehn Tagen. Wie soll ich das wissen, Herr Kommissar? Bei dem Gedanken, dass jemand …«

      »Wo wohnen Sie?«

      »In Bourg-la-Reine, einen Kilometer von der Porte d’Orléans entfernt, an der Route Nationale. Genau gegenüber der fünften Straßenbahnhaltestelle. Es ist ein großes fünfstöckiges Backsteingebäude. Im Erdgeschoss sind eine Fahrradhandlung und ein Lebensmittelgeschäft. Wir wohnen im fünften Stock.«

      Lucas war dort gewesen. Er hatte sich bei den Nachbarn erkundigt.

      Er war skeptisch zurückgekehrt.

      »Eine alte Frau, die ihre Wohnung seit Monaten nicht mehr verlässt, und ihre Nichte, die das Dienstmädchen und die Krankenschwester spielt.«

      Man hatte die örtliche Polizei auf das Haus aufmerksam gemacht, die es fast einen Monat lang überwacht hatte. Außer den Mietern hatte man in keiner einzigen Nacht jemanden hineingehen sehen.

      Und dennoch war Cécile erneut zum Quai des Orfèvres gekommen.

      »Er war wieder da, Herr Kommissar. Diesmal hat er Tintenspuren auf der Schreibunterlage hinterlassen. Ich habe das oberste Blatt erst gestern Abend gewechselt.«

      »Und er hat nichts mitgenommen?«

      »Nein, nichts.«

      Maigret war so unvorsichtig gewesen, die Geschichte seinen Kollegen zu erzählen, und der ganze Quai des Orfèvres hatte sich darüber lustig gemacht.

      »Maigret hat eine Eroberung gemacht!«

      Durch die Glaswand des Warteraums hatten sie das schielende Fräulein begutachtet und waren dann beim Kommissar hereingeplatzt.

      »Beeil dich! Da ist jemand für dich!«

      »Wer?«

      »Deine Verehrerin …«

      Acht Nächte hintereinander hatte Lucas in dem Treppenhaus Wache gehalten, aber weder etwas gesehen noch gehört.

      »Vielleicht kommt er morgen«, hatte Cécile gesagt.

      Schließlich hatte man es aufgegeben.

      »Cécile ist da!«

      Mittlerweile war Cécile berühmt. Alle nannten sie nun schon Cécile. Wenn ein Inspektor den Kommissar in seinem Büro sprechen wollte, hieß es:

      »Achtung! Es ist jemand drin.«

      »Wer?«

      »Cécile!«

      Maigret musste an der Porte d’Orléans umsteigen. An der fünften Haltestelle stieg er aus.

      Auf der rechten Seite ragte zwischen zwei unbebauten Grundstücken ein frei stehendes Gebäude auf, das aussah wie ein schmales und hohes Stück Schichtkuchen.

      Nichts Ungewöhnliches. Autos, die nach Arpajon und Orléans unterwegs waren. Lastwagen, die von den Markthallen zurückkamen. Die Haustür befand sich zwischen der Fahrradhandlung und dem Lebensmittelgeschäft. Die Concierge schälte gerade Mohrrüben.

      »Ist Mademoiselle Pardon schon zurück?«

      »Mademoiselle Cécile? Ich glaube nicht. Aber klingeln Sie ruhig. Madame Boynet wird Ihnen aufmachen.«

      »Ich dachte, sie ist gelähmt?«

      »Ja, so gut wie. Aber sie hat an ihrem Sessel ein System anbringen lassen, das es ihr ermöglicht, die Tür zu öffnen. So eins wie hier in unserer Loge. Und wenn sie will …«

      Fünf Etagen! Maigret graute vor Treppen. Diese hier war dunkel und mit einem tabakbraunen Läufer belegt. Die Wände waren speckig. Auf jedem Treppenabsatz änderte sich der Geruch, je nachdem, was gerade gekocht wurde; ebenso wie die Geräusche: Klavierspiel, Kindergeschrei, und irgendwo wurde heftig gestritten.

      Im fünften Stock hing links ein verstaubtes Namensschild unter dem Klingelknopf: Jean Siveschi. Es musste also die rechte Tür sein. Er klingelte. Das Klingeln hallte durch die ganze Wohnung, doch im Schloss war kein Klicken zu hören und die Tür öffnete sich nicht. Er klingelte noch einmal. Sein Unbehagen schlug in Besorgnis um, die Besorgnis in Schuldgefühle.

      »Was ist denn los?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm.

      Er wandte sich um und sah ein etwas rundliches Mädchen, dessen hellblauer Bademantel ihre weibliche Figur noch betonte.

      »Madame Boynet …«

      »Ja, das ist hier«, antwortete sie mit einem leichten ausländischen Akzent. »Hat Ihnen niemand aufgemacht? Merkwürdig …«

      Sie klingelte ihrerseits, und als sie den Arm nach der Klingelschnur ausstreckte, zeigte sie ein Stück nackte Haut.

      »Selbst wenn Cécile nicht da ist, ihre Tante …«

      Maigret harrte zehn Minuten lang auf dem Treppenabsatz aus und musste dann fast einen Kilometer zurücklegen, um einen Schlosser ausfindig zu machen. Auf den Lärm hin kam nicht nur das junge Mädchen wieder angelaufen, sondern auch ihre Mutter und Schwester.

      »Glauben Sie, dass ein Unglück passiert ist?«

      Das Türschloss, an dem keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen waren, ließ sich ohne größeren Aufwand öffnen. Maigret betrat als Erster die mit alten Möbeln und Nippes vollgestopfte Wohnung, aber er achtete nicht auf Einzelheiten. Ein Wohnzimmer … Ein Esszimmer … Eine offene Tür und in einem Mahagonibett eine alte Frau mit gefärbtem Haar, die …

      »Ich bitte Sie zu gehen. Hören Sie?«, rief er, sich umdrehend, in Richtung der drei Nachbarinnen. »Wenn Sie das lustig finden, tun Sie mir leid.«

      Eine seltsame Leiche: eine kleine rundliche alte Frau, geschminkt und mit strohigem, zu stark blondierten Haar, an dem man jedoch einen weißen Ansatz sehen konnte; ein roter Morgenmantel und nur ein Strumpf, an dem Bein, das aus dem Bett heraushing.

      Es bestand kein Zweifel, dass sie erwürgt worden war.

      Mit düsterer und besorgter Miene kehrte er auf den Treppenabsatz zurück.

      »Würde bitte jemand von Ihnen einen Polizisten aus der Gegend herbringen?«

      Fünf Minuten später telefonierte er aus der Telefonkabine eines nahe gelegenen Bistros.

      »Hallo … Ja, Kommissar Maigret … Wer ist dran? … Gut … Sag mal, Kleiner, ist Cécile vielleicht bei euch noch mal aufgetaucht? Geh zur Staatsanwaltschaft rüber und versuch den Staatsanwalt persönlich zu sprechen … Sag ihm … Hörst du? … Ich bleibe hier … Hallo? … Gib auch dem Erkennungsdienst Bescheid … Wenn Cécile doch wiederkommen sollte … Was sagst du? … Hör auf, Kleiner, da gibt es im Moment wirklich nichts zu lachen.«

      Als er, nachdem er an der Theke ein Glas Rum heruntergestürzt hatte, das Bistro verließ, standen um die fünfzig Personen vor dem Haus in Form eines Kuchenstücks.

      Unwillkürlich hielt er nach Cécile Ausschau.

      Erst um fünf Uhr nachmittags sollte er erfahren, dass sie ebenfalls tot war.

      2

      Madame Maigret würde wieder einmal allein vor den beiden Gedecken warten, die


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