Chefarzt Dr. Norden Box 8 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Dann wärst du vielleicht schon wieder gesund«, gab Eva zu bedenken. »Was hat der Arzt überhaupt gesagt?«
Manni wich dem Blick seiner Frau aus.
»Er … Er wollte sich nicht festlegen. Muss noch ein paar Untersuchungen machen.«
Eva legte den Kopf schief. Eine platinblonde Strähne fiel ihr in die Stirn. Sie wischte sie weg und lächelte ein pinkfarbenes Lächeln. Das Strasssteinchen im rechten oberen Eckzahn blitzte.
»Dann ist es sicher nichts Schlimmes, und du kannst endlich wieder gute Laune haben.«
»Mal sehen.« Manfred rang sich ein Lächeln ab. »Und jetzt gib mir einen Kuss und verschwinde. Ich brauche meine Sachen.«
Eva zögerte kurz. Dann stand sie auf und stöckelte durch das Zimmer. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte. Schickte ihrem Mann eine Kusshand.
Manni atmete auf, als sie endlich verschwunden war. Viel länger hätte er die Verzweiflung nicht verbergen können.
*
Dr. Norden war gerade auf dem Rückweg in sein Büro, als er Regina Kampes Schrei hörte. Keine fünf Minuten später kniete er neben dem Verwaltungsdirektor, den er gemeinsam mit dem Pfleger Jakob auf den Boden gelegt hatte. Herz und Lunge waren abgehört. Puls und Blutdruck gemessen. Sämtliche Ergebnisse waren halbwegs zufriedenstellend.
»Herr Fuchs, können Sie mich hören?« Daniel klopfte ihm sanft auf die Wangen.
Dieters Augenlider flatterten.
»Hallo, Herr Fuchs. Hier spielt die Musik.«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, presste Fuchs durch die fahlen Lippen.
Dr. Norden atmete auf.
»Nichts lieber als das. Leider bin ich als Arzt verpflichtet, Ihnen zu helfen.« Er sah hinüber zu Jakob, der inzwischen nicht untätig gewesen war. »Sagen Sie im Labor Bescheid, dass ich die Blutwerte so schnell wie möglich brauche.«
Wieder verdrehte der Verwaltungsdirektor die Augen.
»Schön hierbleiben, Herr Fuchs.«
Wieder klatschte Daniel auf Dieters Wangen. Davon hatte er schon oft geträumt. Doch wie so oft war die Realität nicht halb so befriedigend wie die Vorstellung. »Und jetzt erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.«
Dieter warf den Kopf hin und her und rang nach Luft.
»Ich … Ich weiß nicht … Plötzlich war es kalt. So furchbar kalt.«
»War Ihnen schlecht? Hatten Sie Beschwerden? Herzstechen? Kopfschmerzen? Schwindel?«
»Nein. Nichts.«
Daniel musterte den Mann auf dem Boden.
»Wollen Sie mir erzählen, dass Ihnen aus heiterem Himmel schlecht geworden ist?«
Regina Kampe stand am Schreibtisch. Die Computermaus lag genau in der Mitte des Mousepads, das ein großes Logo einer Pharmafirma zierte. Sie hätte schwören können, dass auch die Akten rechts neben der Schreibtischunterlage fein säuberlich Kante auf Kante aufeinandergelegen hatten, bevor Dieters Kopf darauf gelandet war. Unter den Mappen spitzte eine Liste hervor. Regina Kampe zog sie hervor. Sie erkannte das Dilemma auf einen Blick.
»Möglich, dass das hier der Grund für den Zusammenbruch war.« Sie zeigte Dr. Norden den Differenzbetrag.
»Schwer vorstellbar, dass ein gestandener Mann ohne großartige gesundheitliche Beschwerden wegen so einer Meldung ohnmächtig wird«, tat der seinen Zweifel kund. »Da muss noch etwas anderes dahinterstecken.« Er wandte sich wieder an den Mann auf dem Boden. »Nehmen Sie Medikamente ein?«
Dieter Fuchs wandte den Kopf ab. Antwort genug für Dr. Norden.
»Was haben Sie geschluckt?«
Der Verwaltungsdirektor presste die Lippen aufeinander. Daniel seufzte.
»Warum müssen Sie mir das Leben eigentlich immer so schwer machen?«
Vom Flur wehten Geräusche herein. Das Klirren von Metall, Schritte und Stimmen. Die angeforderte Liege traf ein. Während sich die Kollegen um den Verwaltungsdirektor kümmerten, nahm sich Dr. Norden den Schreibtisch vor. Lange musste er nicht suchen.
»Beruhigungsmittel.« Er öffnete die Schachtel und schüttelte sie. Zwei leere Blister fielen heraus. Vom dritten fehlten drei Tabletten. »Alle Achtung! Wenn er die drei auf einmal geschluckt hat, wundert mich nichts mehr.« Mit ein paar Anweisungen schickte er die Kollegen mitsamt dem Patienten in die Notaufnahme, wo Dieter Fuchs ordnungsgemäß behandelt werden konnte. Er selbst blieb noch kurz am Tisch stehen. Dachte über seine Zeit mit dem Verwaltungsdirektor nach. An die Intrigen und Bosheiten, mit denen Dieter Fuchs nicht nur ihn, sondern das gesamte Klinikpersonal nach Lust und Laune schikaniert hatte. Und er dachte an das, was dem Verwaltungsdirektor in den vergangenen Wochen widerfahren war. Gab es doch so etwas wie Gerechtigkeit?
*
Als Pflegedienstleitung hatte Schwester Elena die Gesamtverantwortung für den Pflegebereich der Behnisch-Klinik und war Mitglied im Direktorium. Sie steuerte sämtliche Prozesse von der Personalplanung bis hin zur Qualitätssicherung. Sie erteilte Arbeitsanweisungen, wirkte mit bei der Erarbeitung von Pflegekonzepten und half bei der Umsetzung in die klinische Praxis. Neben all diesen Aufgaben war es ihr aber wichtig, den Kontakt zu ihren Mitarbeitern und Patienten nicht zu verlieren. Aus diesem Grund mischte sie sich immer wieder unter Schwestern und Pfleger und tat gewöhnlichen Dienst. Wie an diesem frühen Nachmittag bei Manfred Tuck.
»Das Gespräch bei Dr. Norden war wohl nicht gerade erfreulich, was?« Sie legte den Deckel über den welken Salat, der auf dem Tablett in einer Schale neben angetrocknetem Fischfilet mit Kartoffelpüree lag.
»Meine Gefäße müssen noch untersucht werden«, erwiderte Manfred, der mit geschlossenen Augen im Bett lag.
Einfach einschlafen, wieder aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Doch diesen Gefallen wollte ihm das Schicksal nicht tun.
Elena beobachtete das Gesicht ihres Patienten. Es erinnerte sie an einen See, über den der Wind strich.
»Was beschäftigt Sie?«, fragte sie und stellte eine frische Wasserflasche auf den Nachttisch.
»Dr. Norden hat von der Wesensveränderung gesprochen, die so ein Tumor auslösen kann.«
»Und davor haben Sie Angst?«
Manfred öffnete die Augen. Er lächelte wie ein trauriger Clown.
»Ich stecke schon mittendrin.« Er stützte sich auf den Ellbogen und sah die Schwester an. »Das, war ich in letzter Zeit gedacht und getan habe … Was davon bin wirklich ich? Und was macht das Ding in meinem Kopf? Ich schreie meine Frau an, obwohl sie das Liebste ist, das ich habe. Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang. Vielleicht schlage ich Eva irgendwann oder tue ihr noch Schlimmeres an. Das ist doch beängstigend.«
»Sie haben recht.« Genau wie Dr. Daniel Norden es verabscheute, schlimme Diagnosen zu überbringen, konnte Elena es nicht ausstehen, keinen Trost parat zu haben. Doch was sagte man einem Menschen in so einer Situation? »Deshalb werden unsere Ärzte alles dafür tun, um Sie von dem Parasiten in Ihrem Kopf zu erlösen.« Sie nickte ihm zu. »Verlieren Sie nicht den Mut.« Mehr konnte sie im Augenblick nicht für Manfred Tuck tun und gab die Klinke Dr. Norden in die Hand, der im Begriff war, das Zimmer zu betreten.
Klinikchef und Pflegedienstleitung kannten und schätzten sich seit vielen Jahren. Hatten schwierige Situationen gemeistert, zusammen gelacht und manchmal auch getrauert. Diese Erlebnisse hatten sie zusammengeschweißt. Eine tiefe Freundschaft wachsen lassen, die viele Worte überflüssig machte. Daniel schenkte Elena ein Lächeln, ehe er ans Bett seines Patienten trat. Er stellte die Nierenschale auf den Nachttisch, rollte einen Hocker herbei und setzte sich.
»Eine Angio-MRT läuft nicht anders ab als eine normale MRT«, erklärte er, während er einen Zugang in Manfreds Handrücken legte.