"Was soll aus diesem Kind bloß werden?". Holm Schneider
habe. Er versprach, es gleich zu tun. Seine Gewissensbisse nahmen zu, als er – nach diesem Antrag suchend – Papierstapel von seinem Schreibtisch auf das Fensterbrett schichtete. Er erinnerte sich vage, ihn irgendwo obenauf gelegt zu haben, weil gerade beide Telefone gleichzeitig klingelten. Aber er fand ihn nicht.
Heute Abend, nahm er sich vor, würde er erst nach Hause gehen, wenn er die Papiertürme auf dem Fensterbrett bis auf den Grund abgetragen hatte.
Sowie das Tagesgeschäft beendet war, rief der Professor seine Frau an und erklärte ihr, dass in den nächsten Stunden noch nicht mit ihm zu rechnen sei. Dann begann er aufzuräumen. Er sortierte Protokolle in Aktenordner, stopfte Briefe in die Postablage und warf vieles in den Papierkorb.
Dabei geriet ihm ein Schreiben in die Hände, in dem eine junge Frau um eine Praktikumsstelle bat. Vor Tagen hatte er es mit Interesse gelesen, doch dann beiseite geschoben. Er betrachtete das Foto der jungen Frau. Sie habe Büroerfahrung, schrieb sie, könne mit den gängigen Computerprogrammen umgehen, nach dem Zehnfingersystem tippen und anbieten, ein halbes Jahr unentgeltlich als Praktikantin zu arbeiten.
Solch ein Angebot hätte dem Professor eigentlich wie ein Geschenk des Himmels erscheinen müssen, denn seine Sekretärin war seit vielen Wochen krank und würde ihre Arbeit vermutlich gar nicht wieder aufnehmen. Solange das nicht feststand, war kein Ersatz in Sicht. Trotzdem zögerte er, der jungen Frau eine Zusage zu geben. Frühere Praktikanten kamen ihm in den Sinn, auch solche, die ihm mehr Arbeit gemacht als abgenommen hatten. Und hier ging es nicht um eine gewöhnliche Bewerberin, sondern um eine mit Down-Syndrom.
Zum zweiten Mal blätterte er jetzt in ihrem Lebenslauf und den beigefügten Papieren, die bisherige Praktika auflisteten, unter anderem in der Verwaltung einer Poliklinik. Die junge Frau hatte eine normale Hauptschule besucht und die Berufsschulstufe einer Förderschule abgeschlossen. Seitdem suchte sie offenbar beharrlich nach dem passenden Arbeitsplatz, wobei sie von einem Integrationsfachdienst unterstützt wurde. Sie war gerade 20 Jahre alt.
Der Professor kannte einige junge Menschen mit Down-Syndrom – manche seit ihren ersten Lebenstagen. Als Kinderarzt auf der Neugeborenenstation hatte er den Eltern immer bewusst zu ihrem besonderen Baby gratuliert und gesagt: »Sie werden mit diesem Kind nicht weniger Freude haben als mit einem anderen.« Das wusste er von Familien, in denen Kinder mit Down-Syndrom leben. Er hatte vor Pränataldiagnostikern ihr Lebensrecht verteidigt, sich in Publikationen für ihre Belange eingesetzt und gemeinsame Sportveranstaltungen von Menschen mit und ohne Down-Syndrom betreut. Aber noch nie hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, einen von ihnen als Mitarbeiter zu beschäftigen, auch nicht im Rahmen eines Praktikums.
Warum eigentlich nicht? Weil für den öffentlichen Dienst das Prinzip der Bestenauswahl galt? Weil Menschen mit Down-Syndrom weniger flexibel waren als andere und vielleicht nicht schnell genug arbeiten würden? Weil dies auf Patienten und Klinikangestellte befremdlich wirken könnte? Je länger er überlegte, desto klarer wurde ihm, dass solche Argumente sich nur am Einzelfall prüfen ließen und nicht dagegensprachen, es mit der jungen Frau zu versuchen.
Am nächsten Tag teilte der Professor einem Kollegen diesen Gedanken mit. Der Kollege sah ihn erstaunt an und schüttelte den Kopf. »Das ist doch eine Patientin. Die müssen wir behandeln, aber nicht als Klinikpersonal beschäftigen«, sagte er. Irritiert begann der Professor von Inklusion zu reden. Der Kollege nickte, als verstünde er. Aber er verstand nicht.
Der Professor telefonierte mit Freunden, die ihm Zeitungsartikel schickten. An den Wochenenden forschte er im Internet nach und erfuhr von immer mehr Erwachsenen mit Down-Syndrom, die dort Arbeit gefunden hatten, wo andere auch arbeiten. Weil über den Weg dahin aber meistens nichts zu lesen war, bat er Eltern, ihm davon zu erzählen.
Die junge Frau arbeitete inzwischen als Praktikantin bei ihm und erfüllte ihre Aufgaben genauso zuverlässig wie seine alte Sekretärin. Auch ihr bisheriger Lebensweg war steinig gewesen und erinnerte ihn an die vielen anderen, von denen er gehört hatte.
Deshalb beschloss er, einige dieser Geschichten weiterzuerzählen, um Menschen mit Down-Syndrom, ihren Eltern, Freunden und Verwandten und nicht zuletzt den Arbeitsvermittlern und Personalverantwortlichen damit Mut zu machen.
Anita Lailach, Kindergarten-Helferin
ANITA LAILACH, Kindergarten-Helferin im Kindergarten Winkelhaid (seit 2004)
Warum bekommt Anita immer, was sie will?
Anita kam 1979 im Klinikum Fürth zur Welt. Wo sie einmal zu Hause sein würde, war zunächst ungewiss, denn ihre Mutter hatte sie schon vor der Geburt zur Adoption freigegeben. Die Großeltern trauten sich die Betreuung eines Säuglings nicht zu. Da Anita nicht auf der Neugeborenen-Station bleiben konnte, wäre sie bis auf weiteres in einem Kinderheim untergebracht worden – mindestens für zwei Monate. Erst nach Ablauf dieser Frist durfte die endgültige Freigabe zur Adoption unterschrieben werden. Doch es kam anders.
Erika und Siegfried Lailach, ein Ehepaar ohne eigene Kinder, hatten im Jahr zuvor bereits einen kleinen Jungen adoptiert und planten, noch ein zweites Kind aufzunehmen. Frau Lailach war Kinderkrankenschwester. Sie wusste, dass Säuglinge sehr viel Zuwendung und Nestwärme brauchen, besonders, wenn sie krank sind, und dass ein Kinderheim keine Familie ersetzen kann. Deshalb bekundete sie beim Jugendamt ihre Bereitschaft, auch einen kranken Säugling in Pflege zu nehmen. Vier Tage später wurde Anita zu ihnen gebracht: als »Pflegekind auf Zeit, Verdacht auf Down-Syndrom«.
Anita war ein friedliches, genügsames Baby mit einem herzerwärmenden Lächeln. Wurde sie in ihr Bettchen gelegt, dauerte es nur wenige Minuten, bis sie schlief. Darüber war Frau Lailach froh. Doch die Krankenschwester in ihr bemerkte auch die schräg liegenden Augen und die kurzen, plumpen Finger. Sie fand das Baby sehr schlaff und anfällig für Infekte. Das Down-Syndrom, so hatte sie in ihrer Ausbildung gelernt, gehe mit Muskel- und Immunschwäche einher, mit Herzfehlern, »Schwachsinn« und verkürzter Lebenserwartung. Als nach ein paar Wochen die Diagnose feststand, kreisten viele Gespräche im Hause Lailach um Anitas Zukunft. Hätten die Eheleute eigene Kinder bekommen, wären sie für jedes – ob gesund oder nicht – dankbar gewesen. Sie hatten gewusst, dass eine Adoption nicht weniger Risiken barg als eine Schwangerschaft, aber keinen Augenblick gezögert, Heiko zu adoptieren. Und da ein eigenes Kind mit Down-Syndrom auch hätte bleiben dürfen, beschlossen sie, Anita zu behalten.
Bei den nächsten Verwandten stieß diese Entscheidung auf Unverständnis. Das könne man dem Heiko nicht zumuten, meinten die Großeltern. Noch nie habe es in der Familie ein behindertes Kind gegeben. »So etwas« hole sich doch keiner freiwillig ins Haus.
Mit dem Widerstand ihrer Eltern hatte Erika Lailach nicht gerechnet. Ihr Vater genoss als Großhändler hohes Ansehen, die Mutter war Hausfrau und im Kirchenvorstand aktiv. Könnte Anita tatsächlich dem Ruf der Familie schaden? Immer wieder musste die junge Pflegemutter sich rechtfertigen – sogar sonntags auf der Straße, wo sie von einer Bekannten zur Seite genommen und gefragt wurde: »Wissen Sie, was Sie Ihren Eltern damit antun?«
»Nein, ich weiß es nicht«, erwiderte Erika Lailach, um feste Stimme ringend. »Das Kind war da. Alles, was Sie mir vorwerfen können, ist, dass ich mich darum kümmere.«
Andere Seitenhiebe trafen noch tiefer. Weil die vom Gesundheitsamt angebotene Frühförderung sich erst im Aufbau befand, vertröstete man Anitas Pflegeeltern mit dem Satz: »Beim Down-Syndrom ist’s egal, ob die Förderung im ersten oder im zweiten Lebensjahr beginnt. Die Kinder erreichen sowieso nicht viel.«
Bemerkungen wie diese verstärkten in Erika Lailach das Gefühl, zwischen alle Stühle geraten zu sein. War sie mit ihrem Kinderwunsch zu weit gegangen? Würde die Behinderung dieses Kindes die ganze Familie ins Unglück stürzen? Ohne den Rückhalt ihres Mannes wäre sie wahrscheinlich in einem schwarzen Loch versunken. Doch dank seines Zuspruchs raffte sie sich wieder auf und entschied, in Eigeninitiative mit Anita zur Krankengymnastik zu gehen. Das tat beiden gut: dem schlaffen Baby und seiner angeschlagenen