Italienische Erzählungen. Isolde Kurz
Langmut; sie nahm seine Komplimente an Zahlungs Statt und bediente ihn so aufmerksam wie keinen andern ihrer Mieter.
An einem sonnigen Frühsommermorgen war Paul Andersen ersichtlich mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen, denn es ging ihm an diesem Tag alles schief. Er hatte schon eine Rahmkanne der Hauswirtin zerbrochen und sein Tintenfaß über ein frischgebügeltes Hemd ausgegossen, als er die Entdeckung machte, daß die Holztafel mit seinem raphaelischen Julius dem Zweiten in ihrer ganzen Länge zersprungen war. Er hatte sogar in der Nacht den Knall gehört, ohne sich Rechenschaft davon zu geben. Der Julius war eine seiner besten Arbeiten, Paul hatte volle vier Wochen mit Zusetzung all seiner Kräfte daran gemalt und Essen und Trinken darüber vergessen, denn das Bild war für einen reichen Liebhaber bestimmt, einen der seltenen wahrhaft Verständigen, der ihm weitere Aufträge in Aussicht gestellt hatte, und es mußte morgen schon abgeliefert werden.
Was nun beginnen? Ein klaffender Riß lief senkrecht durch das ganze Bild und teilte das päpstliche Angesicht in zwei Hälften, ein zweiter, kürzerer hatte noch das linke Auge gespalten. Die Versicherung des Schreiners, daß die Sprünge durch Zusammenschrauben und untergesetzte Leisten zu heilen seien, gewährte ihm nur geringen Trost, denn abgesehen vom Zeitverlust, war es kein beruhigender Gedanke, die noch feuchte Malerei unter Tischlerhänden auf der Hobelbank zu wissen.
Verstimmt lehnte er an einem Fenster, das auf die düstere Straße hinunterging, und gab seinen trübseligsten Gedanken Gehör. Er war von jeher ein Pechvogel gewesen. Seit zehn Jahren arbeitete er wie ein Lasttier, er gönnte sich keine freie Stunde, kein Ausspannen, keine Erholung. Und obwohl es ihm gelungen war, sich einen gewissen Namen zu machen, kam er um keinen Schritt vorwärts, ja in den letzten Jahren waren sogar seine Einnahmen zurückgegangen, denn zwei Winter lang hatten bösartige Epidemien in Florenz gewütet und die Fremden, von denen sein Erwerb abhing, ferngehalten.
Wenn er sich in solche Gedanken verbohrte, so lief er Gefahr, in einen krankhaften Kleinmut zu verfallen, der seine Tatkraft lähmte und ihn halbe Tage lang wehrlos und gebrochen aufs Kanapee niederstreckte, und er wußte dies. Um sich zu zerstreuen, trat er einen Augenblick vor den Spiegel, der etwas geneigt zwischen beiden Fenstern hing und ihm seine Person in ganzer Höhe zeigte. Da überraschte es ihn, wie hager er geworden war und daß durch sein einst so schönes braunes Haar schon da und dort die Kopfhaut schimmerte. Wo war seine blühende Jugendgestalt geblieben? Vor zehn Jahren — was für ein frischer, bildhübscher Junge hatte ihn aus demselben Spiegel angesehen! Ob Lydia wohl die Veränderung bemerkte, die mit ihm vorgegangen war? Und sie selbst? — Hatte nicht das lange Harren und Entbehren auch ihr schon seinen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt? Ohne die treue Neigung zu ihm wäre sie schon längst die glückliche Gattin eines andern, der seine Zeit besser zu nutzen gewußt und ihr eine sichere Stellung bieten konnte. Achtzehnjährig hatte sie sich mit ihm verlobt, nachdem sie frisch in Florenz angekommen war, um im Esselinschen Haus die Wartung des Erstgeborenen zu übernehmen. Unterdessen waren zehn Jahre vergangen, zehn lange Jahre voll Mühsal und Selbstverleugnung. Dem einen Sprößling waren sechs andere nachgefolgt, die alle von Lydia gewaschen, gewickelt und umhergetragen worden waren, und noch immer saß das liebe Mädchen wie eine arme Seele im Fegefeuer und wartete, daß er sie erlöse.
Sie hatten sich vorgenommen, nicht eher zu heiraten, als bis sie gemeinsam einen Notpfennig zurückgelegt hätten; zuerst träumten sie von zwanzigtausend Franken, aber als sie sahen, wie schwer es hält, aus lauter kleinen Scheinen ein Tausendfrankenbillet zu machen, setzten sie die Summe auf die Hälfte herunter, und nach zehnjährigem Warten und Arbeiten war das bescheidene Ziel noch nicht erreicht. Hätte er sie lieber gleich im ersten Jugendleichtsinn heimgeführt, dann wäre wenigstens das Leben nicht so ungelebt verflossen, sie hätten mit wenigem hausgehalten und sich gemeinsam nach der Decke gestreckt. Freilich, wenn er an den Esselinschen Kindersegen dachte, pries er doch wieder seine Vorsicht, die ihn vor einem ähnlichen Geschick bewahrt hatte. Der armen gequälten Lydia stand es wenigstens jeden Tag frei, aus ihrer Stelle zu treten, während es aus dem Ehejoch kein Entrinnen mehr gab.
Schon halb getröstet, schickte er sich eben zum Ausgehen an, als der Briefbote klopfte und ihm eine Anweisung auf hundertfünfzig Franken überbrachte, die Adressat persönlich auf der Post in Empfang zu nehmen habe.
Paul Andersen stand wie im Traum. Eine Geldsendung! Seit er dem Elternhaus entwachsen war, hatte er keine solche mehr erhalten, denn seine Bilder wurden ihm immer bar oder in Raten durch den Händler vorausbezahlt. Wer konnte ihm Geld zu schicken haben? Er drehte den gelben Wisch um und um, als könne er ihm sein Geheimnis abfragen, der aber verriet nichts weiter, als daß die Sendung aus Deutschland kam.
Mit seinem vollen Herzen eilte Andersen zu Neubrunn hinunter, um ihm das unerhörte Ereignis mitzuteilen.
Der stand noch im tiefsten Negligé bei seiner Dusche und rief ihm schon von weitem entgegen: „Pomona hat mich beleidigt! Sie muß Abbitte tun, oder ich werde das Haus verlassen!“
„Pomona“ nannte er die Hausvermieterin wegen der reifen Fülle ihrer Formen, im gewöhnlichen Leben hieß sie Signora Virginia und war eine imposante Dame in den besten Jahren.
Paul Andersen, immer gewohnt, sein Ich hintanzusetzen, fragte teilnehmend, was geschehen sei.
„Sie beklagt sich, ich bringe schlechte Gesellschaft ins Haus. Meine Carlotta schlechte Gesellschaft! Der Teufel hole die fette, heuchlerische Kröte!“ Und indem er eine ganze Salve von wenig gewählten Titulaturen über die unglückliche Wirtin ergoß, warf er in der Aufregung seinen Waschapparat durcheinander, zog die Schublade heraus und streute ihren Inhalt auf den Boden, wobei er beständig wiederholte: „Ich ziehe aus! Ich ziehe aus!“
Paul Andersen wollte ihn beruhigen, aber er kam nicht zu Wort. Wohl ein halbes Dutzend Mal hintereinander und immer mit den gleichen Worten erzählte ihm der Freund die Beleidigung, die ihm widerfahren war, und er schloß jedesmal: „Abbitte muß sie tun — auf den Knien — oder ich will nicht mehr Karl Neubrunn heißen.“
Paul empfahl sich rasch, er wußte seit langem, daß Neubrunn, sobald ihm eine eigene Angelegenheit quer ging, für nichts anderes mehr zu haben war.
Er mußte sein Glück allein tragen und auch allein den ihm lästigen Gang zur Post machen, denn er hatte heimlich gehofft, Neubrunn, dem die Geldanweisungen geläufiger waren, würde ihn begleiten.
Zuerst eilte er aber zu seinem Tischler, wo er das Bild, das er selbst zum Schutz mit Seidenpapier überzogen hatte, schon geleimt und in der Hobelbank eingeschraubt sah. Sodann, um das Geld nicht den ganzen Tag in der Tasche herumzutragen, begab er sich voll froher Unruhe nach den Uffizien und pinselte bis zum sinkenden Abend an einem angefangenen Tizian.
Gerade vor Schalterschluß erschien er auf der Post, um sich die Geldsendung einhändigen zu lassen, und es bedurfte noch vieler Formalitäten, bis ihm hundertzwanzig Mark in funkelnden französischen Goldstücken ausbezahlt wurden. Ein kurzes Begleitschreiben sagte, daß dieses Geld der fünfte Teil von dem Gewinn eines Lotterieloses sei, das Andersen einmal vor zehn und einem halben Jahr zusammen mit mehreren Freunden gekauft hatte. Das Los war ihm in den langen Jahren völlig aus dem Gedächtnis entschwunden; er hatte damals nur aus Gefälligkeit sich an dem Kauf beteiligt und nie gedacht, daß ein Pechvogel wie er einmal wirklich in der Lotterie gewinnen könnte. Nun kam er sich mit dem vom Himmel gefallenen Golde auf einmal wie ein reicher Mann vor. Alles Geld, das er verdiente, hatte immer im voraus seine Bestimmung, jeder Frank war eigentlich schon ausgegeben, ehe er ihn einnahm. Heute zum erstenmal in seinem Leben fiel ihm das Unerwartete, der absolute Überfluß auf den Kopf, und in seinem Jubel beschloß er, endlich auch einmal leichtsinnig zu sein.
Aber alles will gelernt sein, auch der Leichtsinn. Paul Andersen stand lange Zeit im Hof des Postgebäudes, seine Goldstücke fest in der geschlossenen Hand haltend, und überlegte, was er eigentlich damit anfangen wollte. Für das tägliche Leben sollten sie nicht draufgehen, seine Bedürfnisse waren für die nächste Zukunft gedeckt, aber ebensowenig wollte er sie aúf Zinsen anlegen. Sie sollten behandelt werden wie ein Göttergeschenk, und etwas Freudiges, Erhebendes sollte ihre Frucht sein. Aber was? Nun, dafür wird Lydia Rat wissen. Jetzt nur auf der Stelle einen Wagen genommen und zu ihr hinausgefahren! Zwar sie wohnt außerhalb der „Barriera“, und das kostet die doppelte Fahrtaxe, aber