Rhetorische Ethik. Franz-Hubert Robling
rednerischen Handelns dargestellt werden. Der letzte Abschnitt untersucht das in der rhetorischen Tradition vorherrschende und bestimmte Tugenden bevorzugende Leitbild des vir bonus dicendi peritus und fragt, welche von ihnen unter den veränderten Umständen heute für den Redner noch verbindlich sein können.
Das sechste Kapitel verwendet abschließend das hier entworfene Ethikmodell für die rhetorisch-ethische Interpretation zweier fiktiver Reden, die auf historischen Vorbildern beruhen, und zwar derjenigen von Brutus und Antonius in Shakespeares Drama »Julius Caesar«. Es sind zwei gegensätzliche politische Reden, die als Reaktion auf Cäsars Ermordung im Jahre 44 v. Chr. gehalten und von dem englischen Dramatiker nach den überlieferten Zeugnissen literarisch gestaltet wurden. Als Theaterreden auf der Bühne führen sie den Zuschauern die Mechanismen der Beeinflussung eines Publikums vor Augen und zeigen so gewissermaßen idealtypisch, welche persuasiven Gestaltungsmöglichkeiten der Redner beim Entwerfen seiner Rede hat und wie diese nicht nur nach ihrem Wirkungspotential, sondern auch nach ihren moralischen Folgen einzuschätzen sind.
Das Fazit am Schluss bietet neben einer Zusammenfassung der Gedanken des ganzen Buches noch einige Überlegungen zur Frage, inwiefern rhetorische Ethiknormen auch für die Berichterstattung von Presse und Fernsehen wichtig sein könnten.
I. Rhetorik, Ethik und die Beherrschung sprachlicher Gewalt
1. Rhetorische Persuasion und sprachliche Gewalt
Die Legitimierung und Begründung einer rhetorischen Ethik muss an der Frage ansetzen, wie die von der Rhetorik ausgehende sprachliche Gewalt beherrscht werden kann. Zwar gibt es einen alten rhetorischen Topos, der besagt, die persuasive Rede18 könne den Gebrauch von körperlicher Gewalt ersetzen, wenn es darum geht, Menschen zu irgendwelchen Handlungen zu bewegen. Es stimmt: Durch ihr Wirkungspotential kann die Rede den Einsatz physischer Zwangsmethoden überflüssig machen. Aber stellt sie nicht selbst oft eine subtile Form von Gewaltanwendung dar, die auf der Wahl bestimmter Argumentationsmethoden oder der von bestimmten Interessen gelenkten Ordnung von »Redefeldern« beruht, wie Bernhard Waldenfels meint?19 Ganz zu schweigen von Situationen, in denen Scheinargumente vorgebracht werden oder es um Emotionen statt um Rationalität, um Beschönigung und Täuschung bis hin zu Manipulation und Propaganda geht. Man kann sich zwar damit herausreden, dass all dies zur »Überredung« der Zuhörer zähle, neben der es ja auch die unverdächtige, nur transparente Argumentation und Vernunft gebrauchende »Überzeugung« gebe. Dennoch gehört in einer auf Wirkung setzenden Rede beides zusammen, weshalb für Habermas »das Moment der Gewalt« in der Rhetorik aufgrund der »Ambivalenz zwischen Überzeugung und Überredung […] bis auf den heutigen Tag […] nicht getilgt worden ist«.20 Dieses Faktum kann man nicht negieren, doch es stellt sich die Frage, wie man damit umgehen kann und soll.
In der rhetorischen Forschung wird das Problem kontrovers diskutiert. Josef Kopperschmidt etwa transformiert die Gewaltfrage in eine Machtfrage. Er konzentriert sich auf den Aspekt der »Rede mit Gewalt« als Waffe im Kampf um die Durchsetzung individueller Interessen, die als Instrumentalisierung der »Macht des Wortes« eine besonders raffinierte Form von Gewalt sei, wogegen die Rede doch historisch auch als eine Alternative zur Gewalt verstanden werde.21 Denn in der Ersetzung der Gewalt22 durch die Rede sieht er »den evolutionären Gewinn eines Mediums […], das die Koordinierung handelnder Subjekte nicht nur effektiver macht, sondern zugleich qualitativ in einer Weise verändert, die ein politisch organisiertes Zusammenleben zwischen freien und gleichen Menschen überhaupt erst möglich macht«. Voraussetzung ist für ihn ein auf den Theorien von Habermas und Arendt gegründetes Verständnis von gesellschaftlicher Macht, das aus dem Zusammenschluss und Einverständnis von Menschen entstanden ist, die sich gegenseitig als zurechnungsfähige Subjekte anerkennen.23 Wenn Gewalt sozial geächtet ist, werden Reden zur einzig legitimen Form möglicher Beeinflussung und »zur wichtigsten Ressource sozialer ›Macht‹«, weil sie die Meinungen von vielen zu einem handlungsfähigen Willen verbinden.24 Der rhetorisch erzielte Konsens ist also das Mittel zur sozialverträglichen Transformation von Gewalt in Handlungsmacht. Diese Auffassung von Kopperschmidt hat viel für sich, doch bleibt die Frage, ob nicht auch in den Beiträgen der einzelnen Diskursteilnehmer eine Form rhetorischer Strategie am Werk sein kann, die gewaltsam ist und als psychische Gewalt eingestuft werden muss.
Joachim Knape geht in seinen Überlegungen zur Gewaltfrage von der »Beeinflussung« in Form von »kommunikative[n] Handlungen« aus, »die auf Änderungen irgendwelcher Art gerichtet sind und deren Interaktionsformen, Kommunikationsmittel und -techniken von der Mehrheit aller Gruppenmitglieder akzeptiert werden. Akte kommunikativer Beeinflussung unterliegen mithin den von […] Herbert P. Grice aufgestellten Kommunikationsmaximen, die ihrerseits unter dem Kooperationsprinzip stehen.«25 Knape trennt die Manipulation als nicht erlaubte Beeinflussung des Publikums mit unlauteren Mitteln, wie z. B. dem Betrug, vom erlaubten »rhetorischen Handlungsmodell des Überzeugens«.26 Die Frage, ob auch bei der rhetorischen Überzeugung eine Gewalttätigkeit vorliege, beantwortet er mit dem Hinweis, die Rhetorik setze nun mal auf Beeinflussung und sei von daher zwar keine »irenische Kunst«27, aber auch kein Zwang. Andere Menschen von der eigenen Meinung zu überzeugen sei in den meisten Kulturen unproblematisch. Auch der Einsatz von Emotionen sei erlaubt, die Hassrede zur Herabwürdigung anderer Menschen wie in der Nazizeit aber nicht. Das zeige, die Spielräume der Einschätzung, ob Gewalt vorliege oder nicht, seien von sozialen und juristischen Maßstäben einer Gruppe oder Gesellschaft abhängig.28 Es ist nach seiner Meinung realitätsfern, rhetorisches Handeln auf reinrationale Mittel zu beschränken, denn auch »emotional stimulierende Mittel« seien »üblich und gestattet«.29 Knape konstatiert am Schluss, rhetorische Mittel »im technischen Sinn« könnten sowohl für verantwortbare wie für unverantwortliche Kommunikationsvorgänge eingesetzt werden. Die Entscheidung darüber liege bei dem jeweils verantwortlichen Menschen.30
Diesem Urteil ist sicher zuzustimmen. Allerdings schwächt Knape die Gewaltproblematik der Rhetorik ab. Er macht es sich zu einfach mit der Feststellung, die Rhetorik arbeite mit sozial akzeptierter Beeinflussung, wobei die Einschätzung des Gewaltcharakters von sozialen und rechtlichen Maßstäben abhängen würde. Doch nicht alles rechtlich Erlaubte ist auch moralisch akzeptabel. Gerade wenn wir meinen, manipuliert zu werden, haben wir das Gefühl, hier sei eine juristisch zwar nicht fassbare, aber moralisch doch sehr relevante Grenze überschritten worden. Knape scheint mit der Erwähnung der Grice’schen Kooperationsmaximen übrigens so etwas wie einen ethischen Rahmen für die rhetorische Beeinflussung vorgeben zu wollen. Doch diese Maximen können solch eine Anforderung nicht erfüllen. Grice unterscheidet vier Kooperationsprinzipien, und zwar nach den (kantischen) Kategorien der Qualität, Quantität, Relation und Modalität. Diesen ordnet er vier kommunikative Maximen zu, nämlich Informativität, Wahrheit, Relevanz und Klarheit. Informativität, Relevanz und Klarheit sind bloß technische Kommunikationsmaximen, nur die Aufforderung: »Versuche deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist«, formuliert eine moralische Maxime.31 In der Rhetorik sollte es darüber hinaus aber noch weitere moralische Maximen geben, etwa das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.32
Thomas Zinsmaier kritisiert den überlieferten Topos von der friedensstiftenden Macht der Rhetorik durch Kultivierung des Menschen, auf den sich Kopperschmidt beruft. Er referiert dazu den von Cicero in »De inventione« erzählten Mythos, nach dem ein weiser Mann in der Urzeit die Menschen durch die Macht seiner Beredsamkeit aus ihrem von Gier und Gewalt bestimmten Naturzustand in ein geordnetes Staatswesen geführt und sie von wilden zu sanftmütigen Wesen gemacht habe. Wenig später berichtet Cicero, irgendwann hätten sich jedoch eigennützige und unvernünftige Männer der Beredsamkeit bemächtigt, mit ihr die Menschen verführt und gegeneinander aufgehetzt, so dass sie dadurch in Verruf geraten sei.33 Zinsmaier hält fest, dass die Rhetorik also keineswegs gewaltlos verfahre, und erläutert nun die verschiedenen Aspekte rhetorischer Gewaltausübung. »Manipulation« oder »schwarze Rhetorik« sei per se schon gewalttätig, aber auch »rhetorische Überzeugung« oder »weiße Rhetorik« arbeite mit Gewalt z. B. in der Erregung von Hoffnung und Furcht durch Versprechen und Warnen.34 Die von Kopperschmidt