Rhetorische Ethik. Franz-Hubert Robling
und dessen Resultate beschrieb. Gewalt vor und nach der Kultivierung stellt sich nach Cicero also in verschiedener Perspektive dar: Gewaltausübung im Naturkontext, die aus einem Zustand tierischer Wildheit entsteht, erscheint als unkontrolliert ablaufender Prozess und triebhaft; Gewalt im Kulturkontext, selbst wenn sich Wildheit und Triebhaftigkeit in ihr äußern, enthält aufgrund des veränderten Umfeldes, in dem sich das menschliche Leben jetzt abspielt, immer ein Element von bewusster und zu verantwortender Entscheidung, für die der Täter sich rechtfertigen muss.63
Nun könnte man einwenden, Überwindung und Vermeidung von Gewalt seien beinahe dasselbe und würden im konkreten Handlungsakt praktisch zusammenfallen. Und doch sind sie ethisch gesehen zu unterscheiden, denn »Überwindung« bedeutet hier nur »Ersetzung« von Gewalt, wogegen »Vermeidung« die moralische Entscheidung betrifft, auf Gewalt zu verzichten. Erst mit dieser Entscheidung wird die kulturelle zugleich zur ethischen Handlung. Auch der im obigen Isokrates-Zitat verwendete Ausdruck »ein Leben führen« enthält neben dem kulturellen einen ethischen Aspekt. Strenggenommen »führen« nur die Menschen, nicht aber die Tiere ihr Leben.64 Für diese ist das Leben allein ein vitaler Vorgang. Es stellt ihnen nicht die geistige Aufgabe, den Freiheitsspielraum ihrer Existenz zu gestalten, indem sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten, ihre Handlungen begründen und Verantwortung dafür übernehmen. Das Tier kennt keine Spannung in sich zwischen Höherem und Niederem, keinen Gegensatz von Geist und Sinnlichkeit. Diesen Gegensatz vermag nur der Mensch nach der und durch die Kultivierung reflektierend in seinem Leben so oder so zu gestalten und eine ganze Skala von ethischen Realisierungen dieses Verhältnisses zu entwerfen. Voraussetzung dazu ist der Erwerb von Bildung in den verschiedenen Phasen seines Lebens, alles Möglichkeiten, die dem Tier fehlen.65 Isokrates beschreibt im »Nikokles« genauer, welche Konsequenzen Erziehung und Beredsamkeit für die menschliche Lebensführung haben: »Die Sprache (lógos, die vernünftige Rede) nämlich ist es, die Richtlinien gegeben hat für das Gerechte und Ungerechte, für das, was schändlich und ehrbar ist. Ohne diese Richtlinien könnten wir nicht miteinander leben. Mit unserer Sprache […] weisen wir die Schlechten zurecht und rühmen die Guten. Mit Hilfe der Sprache erziehen wir die Unvernünftigen und zeigen den Verständigen unsere Anerkennung. Denn reden zu können, wie es nötig ist, dies betrachten wir als größtes Zeichen für Vernunft, und ein aufrichtiges, gesetzestreues und gerechtes Wort ist Abbild einer guten und vertrauenswürdigen Seele.«66 Wieder werden kultureller und ethischer Aspekt zusammengeführt, und zwar diesmal bezogen auf die vernunftgeleitete und soziale Funktion rhetorisch geformter Sprache.
4. Redewirkung als Quelle neuer psychischer Gewalt
Cicero beschreibt am Anfang von »De inventione« gewissermaßen die ethische Urszene der Rhetorik, wenn er zeigt, wie der Einfluss der Beredsamkeit physische, also körperliche Gewalt vermeiden kann. Er weiß allerdings auch, dass die Rhetorik ihrerseits neue, und zwar psychische Gewalt hervorzurufen vermag, die das Denken und Fühlen der Menschen verändert. Diesen Fall behandelt er im weiteren Verlauf der Einleitung zu seiner Schrift. Jetzt wählt er das Beispiel nicht mehr aus der Kulturgenese der Menschheit, sondern aus der Geschichte Roms in der späten Republik, als »verwegene Männer« ohne Bildung und Weisheit die Redekunst für ihre eigenen Zwecke ohne Berücksichtigung des Gemeinwohls benutzten. Damals kümmerten sich die »weisen Männer« nur um die politische Lenkung des Staats, nicht aber um das Prozesswesen vor Gericht. Dieses wurde daher zum Betätigungsfeld von skrupellosen Advokaten, die ihrerseits an die Spitze des Staates kamen, die weisen Männer verdrängten und die res publica ruinierten.67 Wieder geht es Cicero also um die Vermeidung von Gewalt: diesmal aber nicht der Gewalt der Lebensumstände, die sich mithilfe der Rhetorik unschädlich machen lässt, sondern die von der Beredsamkeit selbst ausgehende, die ohne Verbindung mit Weisheit handelt und Ausdruck der vorher kritisierten Leidenschaft und Begehrlichkeit ist. Als Mittel zur Vermeidung dieser Form von Gewalt empfiehlt er die Orientierung an der Redekunst rechtschaffener Männer wie Cato, Laelius und Scipio Africanus, deren Beredsamkeit ihrem Ansehen entsprach und »dem Staat Schutz brachte«.68
Die Auffassung, die persuasive Rede sei nicht nur ein Mittel, um Frieden zu stiften, sondern übe selbst auch psychische Gewalt aus, war jedoch bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland unter den Gegnern der sophistischen Rhetorik weit verbreitet. Das »gewaltig reden« (deinós légein) galt als ein Verhaltensmerkmal von Politikern und Sophisten wie etwa des Antiphon69, das schon die damalige Öffentlichkeit mit Misstrauen registrierte. Die Redegewalt dieser Männer zeigte nicht nur ihr großes Geschick im Gebrauch der Beredsamkeit, sondern ihre Wirkung spiegelte auch die Erfahrung vieler Leute, einem geradezu hypnotischen Einfluss beim Hören ausgeliefert zu sein, ohne dass man genau wusste, woher dieses Gefühl kam.70 Ein Mittel dieser Redegewalt war der sophistische élenchos, die Widerlegung des Gegners im Streitgespräch, das ihn bloßstellte und vorführte. Dabei kam es dem Redenden weniger auf die Widerlegung in der Sache an als vielmehr auf den Sieg über den Kontrahenten. Der élenchos war in seiner Funktion für viele undurchschaubar und sollte vor allem die umstehenden Hörer fesseln; er wollte den Gegner kompromittieren und dem Gelächter preisgeben.71 ´Elenchos und Redegewalt gehörten zum sophistischen Rede-Agon, zum kämpferischen Wettbewerb zwischen Herausforderer und Gegner und zum Bestreben, sich aneinander zu messen und den Besten zu ermitteln. Nicht der Sieg der Wahrheit und des Richtigen war das Ziel, sondern die Bewährung aufgrund von Geschick und Wendigkeit, denn der Agon schied das Kraftvolle vom Schwachen, das Echte vom Falschen. Schiedsrichter des sophistischen Rede-Agons waren das Publikum und überhaupt die Öffentlichkeit. Formen des Rede-Agons gab es außer im streitbaren Wechselgespräch auch als Vortrag gegensätzlicher Reden zum selben Thema. Protagoras, der wahrscheinlich als erster die Rede-Agone einführte, verfasste eine Schrift mit dem Titel »Niederringende Reden«, in denen er beschrieb, wie man nach Platons spöttischem Wort ein »Athlet im Kampfsport Reden« werden könne. Außerdem lehrte er in seinem Unterricht, die schwächere Seite zur stärkeren zu machen.72
Die Gewaltsamkeit sophistischer Rede, die sich offen im élenchos und im Rede-Agon zeigte, wirkte hintergründig auch im Konzept der Überredung (peithó) des Gorgias. Rhetorik war für diesen psychagogía diá lógon, die »Seelenführung durch Worte«, so dass der Redner »den meisten Glauben beim Volke« finde und dabei »gegen alle und über alles« reden könne, »worüber er nur will«.73 Gorgias setzt auf die Bedeutung der Meinung (dóxa) für die Konstitution von Seele und Rede. Die Meinung ist für ihn ein zentraler Baustein der Seele; diese wird regiert von der Rede, die eine aktive, beherrschende Rolle in ihr spielt, sie formt und aufwühlt. Zugleich hat die Meinung eine schwankende, in die Irre führende Gestalt; sie ist der Wahrheit, die als Ziel der Rede gänzlich aus dem Gesichtskreis des Gorgias verschwunden ist, strikt entgegengesetzt. Er mahnt nirgends dazu, sich der Macht der Meinung durch Bemühung um die Wahrheit zu entziehen, sondern zeigt besonders in seiner Lobrede auf Helena nur, wie die dóxa zu handhaben ist. Dort vergleicht er die Rede, die die Meinung bildet, mit einem Wirkstoff, einer Droge wie in der Medizin, die eine Täuschung in der Seele hervorruft, was für Gorgias keineswegs schlecht, sondern manchmal sogar höher als die Wahrheit einzuschätzen ist. Die Rede nötigt die Seele des Hörenden zur Passivität; sie ruft Emotionen hervor oder nimmt sie hinweg, ganz wie der Redner es will.74 Gorgias thematisiert hier nicht den sozialen, sondern den individuellen Nutzen der Redekunst, die es dem Redenden ermöglicht, seine eigenen Ziele durchzusetzen.
Dies sind nur einige Beispiele für Methodik und Theorie persuasiver Redegewalt, wie sie die Sophistik damals entwickelt hatte. Dazu kamen noch Hinweise etwa zur Gestaltung einer wirkungsvollen Vortragsweise mit besonderer Stimmführung, Mimik und Gestik, denn erst diese machen eine Rede lebendig, wobei die Sprache des Körpers besonders die Emotionen der Zuhörer beeinflussen sollte. Die Macht der Rhetorik beruhte allerdings nicht nur auf der Wirkung der mündlichen Rede, sondern auch auf der Entwicklung technischer Hilfen zur methodischen Planung des Redeerfolgs. Die Sophisten verfassten nämlich Handbücher für das Entwerfen von Reden (téchnai), wobei sie von ihren eigenen Texten, die als Muster und Lehrstoff für ihre Schüler dienten, ausgingen und danach den Unterricht gestalteten.75 Die technisch angeleitete, zudem jetzt auch