Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922. Hannes Leidinger

Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922 - Hannes Leidinger


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      [17]Zu dieser vorwiegend internen Fragmentierung kamen häufig noch Akteure aus dem Ausland hinzu. Im (ehemaligen) Zarenreich, und vor allem in seinen Randgebieten, waren am »Bürgerkrieg« neben den genannten Tschechen, Ungarn und Österreichern auch Nachbarstaaten wie das Deutsche Reich und einstige Verbündete Russlands wie Frankreich und Großbritannien beteiligt. All dies muss mit berücksichtigt werden, gerade vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen.

      Darüber hinaus ist die globale Wirkung der Ereignisse in den Gebieten des früheren Zarenreichs relevant. Die Russische Revolution von 1917 und die Machtergreifung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch sind von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn der Kommunismus wurde auf längere Sicht zu einer der einflussreichsten Ideologien des 20. Jahrhunderts. Staaten, deren Herrschaftssysteme sich auf ihn beriefen, prägten über Jahrzehnte das internationale Geschehen. Die Folgen sind bis heute spürbar. Zugleich erinnern die bewaffneten Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg an gegenwärtige, schwer durchschaubare Konflikte mit vielen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren.

      LeninLenin, Wladimir Iljitsch bei der Einweihung des MarxMarx, Karl-EngelsEngels, Friedrich-Denkmals in Moskau 1918. Rechts neben ihm Jakow SwerdlowSwerdlow, Jakow, ein hochrangiges Mitglied der bolschewistischen Partei, der als Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der Räte und formelles Staatsoberhaupt Sowjetrusslands ebenfalls in die Ermordung der Zarenfamilie verwickelt war

      Im Folgenden soll dieser vielschichtige »Bürgerkrieg« auf drei Ebenen beleuchtet werden. Erstens gilt es einen Überblick über die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zu geben (Kapitel 2). Zweitens sollen die militärischen Kontrahenten, das Kriegsbild und die Waffengänge einer Analyse unterzogen werden (Kapitel 3). Schließlich kommt die Perspektive »von unten« zur Sprache, damit die Leserinnen und Leser ein plastisches (Schreckens-)Bild vom Alltag in diesen blutigen Zeiten gewinnen können (Kapitel 4). Eine chronologische Darstellung gibt das Buch also zugunsten dreier thematischer Längsschnitte auf. Einige bedeutende Geschehnisse und Entwicklungen werden in den drei Kapiteln daher wiederholt, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet.

      [19]2 Das Konfliktgemenge

      »Schlag die Weißen mit dem roten Keil« – Das Plakat des russischen Avantgardisten El LissitzkijLissitzkij, Eliezer »El« aus dem Jahr 1919 vereinfacht trotz unterschiedlicher Rezeption eine in Wahrheit komplexe Mischung verschiedener politischer, sozialer und militärischer Auseinandersetzungen.

      Die letzten Jahre des Zarenreiches

      Nicht wenige Beobachter sagten das Ende des Zarenreichs bereits vor dem Ersten Weltkrieg voraus, und noch mehr empfanden den Nieder- und Untergang des Reichs im Nachhinein als unvermeidlich und folgerichtig. Gegen diese Sichtweisen spricht allerdings die Tatsache, dass geschichtliche Entwicklungen selten zwangsläufig sind. Der Sturz des letzten Zaren Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) war keine ausgemachte Sache. Die Agrarkrise seit der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 sowie die Unruhen in den wachsenden Städten und insbesondere unter der Arbeiterschaft wiesen jedoch auf die Schwäche des Staatsapparates hin.

      Außen- und innenpolitische Probleme erschütterten das Regime von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) in den Grundfesten. Infolge der Niederlage im Krieg [20]gegen Japan 1904/05 war Russland in seine erste große Revolution von 1905 bis 1907 geschlittert. Sie endete mit halbherzigen und anschließend oft in Frage gestellten Zugeständnissen an die Aufständischen, die politische Teilhabe und Reformen verlangten. Zugleich trat dabei ein außerordentliches Aggressionspotenzial zutage. Dieses beruhte unter anderem auf den Alltagserfahrungen der vorwiegend ländlichen Bevölkerung, die drakonische Strafen sowohl seitens der eigenen Dorfgesellschaft als auch der »Herrschaft« und der staatlichen Institutionen gewohnt war. Gruppendynamische Prozesse und Rachegefühle trugen zur Eskalation gleichermaßen bei wie die großen sozialen Gegensätze und vorhandenen Feindbilder. Pogrome mit unzähligen jüdischen Opfern wurden zum Merkmal einer Gewaltperiode, die nicht bloß den Zeitraum von 1905 bis 1907 umfasste und deren Beginn genauso schwer zu benennen ist wie ihr Ende.

      Eine friedliche Demonstration in Sankt Petersburg Anfang 1905. Ihre gewaltsame Auflösung führte zur ersten großen Revolution in Russland.

      Trotz gewisser Ähnlichkeiten zwischen den Erschütterungen der ersten Russischen Revolution und jenen am Ende des Ersten Weltkrieges führte jedoch keine direkte Linie bis zum Sturz von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) Gewiss: Die Aufstände wurden ab 1905 brutal unterdrückt. Gestaltungsmöglichkeiten in der konstitutionellen Monarchie blieben einer kleinen Gesellschaftsschicht vorbehalten. Ebenso wenig konnten [21]Industrialisierungsmaßnahmen und Verbesserungen der Agrarproduktion die Kluft zwischen Regierung und Opposition, zwischen den reichen und den armen Bevölkerungsgruppen überbrücken. Unter anderem verschärfte die Radikalisierung der Regimegegner die Gegensätze. Allerdings musste das angeschlagene System nicht zwangsläufig zusammenbrechen, als der ZarNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) im Sommer 1914 seine Soldaten gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zu den Waffen rief.

      Der Hurrapatriotismus zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der jedoch lediglich Teile der Stadtbevölkerung erfasste, sowie die »vaterländische Gesinnung« des Parlaments, der Duma, täuschten nur kurzfristig über die Probleme des Landes hinweg. Die Krise verschärfte sich bald über das Maß der bekannten Unzulänglichkeiten hinaus. Strategische und kriegswirtschaftliche Entscheidungen entzweiten die Gesellschaft. Die zivile und militärische Führung des zerbrechlichen Reiches verlor an Einfluss und Gestaltungsspielraum. Um der Kritik an der Unfähigkeit der Zarenherrschaft und ihres Behördenapparates etwas entgegenzusetzen, gründete man Komitees und Spezialausschüsse. Mit ihnen wollten vor allem die lokalen Selbstverwaltungskörper Materialknappheit und Versorgungsengpässe beseitigen. Die höheren Gesellschaftskreise, hieß es in diesem Zusammenhang, hätte man zur Rettung des Reiches schon früher heranziehen sollen. Tatsächlich arbeiteten jedoch die neu gebildeten Gremien vielfach eher gegen- als miteinander. Die Zersplitterung des gesamten Wirtschaftslebens erschwerte die Versorgung zusätzlich. Auf die benötigten Waren warteten Abnehmer oft vergeblich, zumal auch das Transportwesen marode war.

      Wirtschaftliche und organisatorische Defizite gingen mit sozialen und politischen Unmutsäußerungen, der Verfolgung von Sonderinteressen und einer schleichenden Auflösung des Reichsgefüges einher. Der ZarNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), die Armee und die Minister waren 1916/17 weitgehend diskreditiert. Die Opfer, die Soldaten und Zivilisten im Krieg gleichermaßen bringen mussten, verloren in den Augen der Bevölkerung angesichts der Organisationsmängel, der Niederlagen an den Fronten, der steigenden Lebenshaltungskosten, der schlechten Güterverteilung und des Mangels an Nahrungsmitteln endgültig jeden Sinn. Die Desillusionierung vergrößerte sich, als immer mehr Nachrichten über Fehlentscheidungen, Korruption und »Kriegsgewinnlertum« Verbreitung fanden. Hinzu kamen Gerüchte und Meldungen über die Verhaftung von [22]Unruhestiftern, die es gewagt hatten, ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Unzufriedenheit und Widerstandsgeist wuchsen, zunächst speziell in den urbanen Zentren. Die Bereitschaft, in den Fabriken zu streiken oder auf den Straßen zu demonstrieren, nahm zu. Sie mischte sich mit einer fundamentalen Systemkritik.

      Soldaten der Petrograder Garnison verbünden sich im Zuge der Februarrevolution 1917 mit den Demonstranten.

      Bei Protestkundgebungen im Februar bzw. März 1917 in der Hauptstadt Sankt Petersburg, die seit 1914 Petrograd hieß, riss die Befehlskette schließlich an ihrer wichtigsten Stelle. Teile der Garnison weigerten sich, weiter auf ihre »rebellierenden Brüder und Schwestern« zu schießen. Auch die Duma widersetzte sich den Anordnungen von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) und gründete ohne seine Zustimmung ein selbstständiges Komitee zur Bewältigung der schwierigen Situation. »Bauernsoldaten«


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