Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922. Hannes Leidinger

Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922 - Hannes Leidinger


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im Rahmen der Revolution von 1905 gebildet worden waren, traten erneut in Erscheinung. Während ihre Leitungsorgane Kontakt mit den Parlamentariern und mit deren Komitee aufnahmen, [23]dankte der ZarNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) angesichts seines vollständigen Machtverlusts am 15. März 1917 ab. Potenzielle Nachfolger des bisherigen Monarchen verfügten über einen geringen gesellschaftlichen Rückhalt. Der Thron blieb vakant. Die rund dreihundertjährige Herrschaft der Romanows fand ihr Ende.

      Autoritätsverlust und Machtwechsel

      Die Februarrevolution von 1917 war im Großen und Ganzen eine elementare Erhebung gegen die Monarchie gewesen. Im Augenblick des Thronsturzes begann aber zugleich ein noch umfassenderer Auflösungsprozess. Die neue Provisorische Regierung unter dem liberalen Fürsten Georgij J. LwowLwow, Georgij J. (Fürst) war mit einer Unzahl von auseinanderstrebenden Kräften konfrontiert. Sie bewirkten in der Summe allmählich ein fast völliges Zerfallen der Gesellschaft.

      Bezeichnenderweise ging die Zahl der Streiks nach der Wende vom Frühjahr 1917 nicht zurück. Vielmehr wuchs mit den Ansprüchen und Erwartungen der Betriebsbelegschaften das Selbstvertrauen des »Proletariats«. Die Entstehung von Fabrikkomitees offenbarte eine bedeutende Machtverschiebung. Von Direktoren und Arbeitern der Betriebe gleichermaßen der Parteilichkeit verdächtigt, sah sich das Kabinett LwowLwow, Georgij J. (Fürst) vor allem durch die Gewalt des Widerspruchs herausgefordert. Der Einfluss der Bolschewiki stieg. Die seit Februar existierenden »Roten Garden« untergruben die Autorität der städtischen Milizen im Bereich des Sicherheitswesens. Außerdem wurden die Menschen in einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Versammlungen zunehmend politisiert.

      Eine Gruppe revolutionärer Milizen in Petrograd 1917

      Das Bestreben, im Zuge der Umwälzungen gewonnene Freiheiten beizubehalten, beherrschte nicht zuletzt auf dem Land die weitere Entwicklung. Im Unterschied zu autarken Einzelhöfen, die unter dem ZarenNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) vor 1914 gefördert worden waren, erlebte im Jahr 1917 die Dorfgemeinde als Landumverteilungs- und steuerliches Solidarhaftungskollektiv einen Aufschwung. Die Provisorische Regierung, der schließlich die vor allem agrarische Interessen vertretenden »Sozialisten-Revolutionäre« angehörten, registrierte unter anderem in den zentralen Gebieten eigenmächtige Abholzungen von Wäldern in bisher nicht [24]dagewesenem Ausmaß. Besetzungen und Zerstörungen von Herrenhöfen häuften sich. Die Anarchie war nicht mehr aufzuhalten. Da die Revolutionäre oft von Frontheimkehrern oder Deserteuren angestachelt wurden, kam es ab der Jahresmitte 1917 zu einer weiteren Radikalisierung. Aus den Provinzen Tambow, Pensa, Woronesch, Saratow, Orjol, Tula und Kasan meldete man Fälle von Lynchjustiz an Großgrundbesitzern – teilweise handelte es sich um Racheaktionen für die Hinrichtungen von Bauernrebellen im Gefolge der Revolution von 1905. Allein im September und Oktober legten Bauern außerdem ungefähr 250 Herrenhäuser, also ein Fünftel aller Gutsbesitze dieser Regionen, in Schutt und Asche.

      Die Sozialisten-Revolutionäre gehen auf die Bewegung der Narodniki in den 1860er Jahren zurück. Letztere versuchten, in Distanz zum Marxismus einen russischen Weg zum Sozialismus zu finden, der vor allem dezentral auf die Dorfgemeinde aufbaute. Die radikale Intelligenzija, Vertreter der gebildeten Gesellschaftsschicht, war dabei federführend. Sie wollte »ins Volk gehen«, scheiterte aber zunächst mit dem Versuch einer politischen Aufklärung der Agrarbevölkerung.

      1902 schlossen sich Vertreter dieser wiederbelebten Richtung in der geheim gegründeten Partei der Sozialisten-Revolutionäre zusammen. Deren Kampforganisationen bevorzugten den individuellen Terror gegen die Repräsentanten der alten Macht. Die Parteistrukturen blieben allerdings schwach. 1917 spaltete sich die PSR primär in einen rechten und linken Flügel. Letzterer hielt zeitweilig zu den Bolschewiki. Schließlich verschwanden jedoch alle und damit auch die sozialistischen Parteien aufgrund der schrittweisen Errichtung der KP-Alleinherrschaft.

      Parallel zur Abrechnung mit der Aristokratie bildeten sich in den jeweiligen Kreisen und Orten eigene Sowjets, die als »Dorfgemeinde in revolutionärer Form« das alte Ideal der dörflichen Selbstverwaltung verkörperten. Bisweilen riefen lokale Räte sogar Dorfrepubliken mit eigenen Hoheitszeichen und Fahnen aus. Nicht wenige stellten außerdem Polizisten oder Richter ein, bildeten Rote Garden und Milizverbände aus Freiwilligen.

      Konkurrenz zu den dörflichen Vertretungsgremien gab es auf dem Lande unter derartigen Bedingungen seltener. In der Provinz setzte man eher auf Kooperation. Der Einfluss der Zentralinstanzen blieb in den [25]meisten ländlichen Gebieten begrenzt. In Petrograd wiederum hätte der Arbeiter- und Soldatenrat jederzeit die Herrschaft an sich reißen können. Viele erblickten in ihm die höchste Autorität, zumal sich die Regierung trotz pazifistischer Grundstimmung in der Bevölkerung zur Weiterführung des Krieges gegen die Mittelmächte entschlossen hatte.

      Das Fass zum Überlaufen brachte Außenminister Pawel N. MiljukowMiljukow, Pawel N.: Er sprach sich nicht nur für den Fortbestand des Kriegsbündnisses mit den Westmächten aus, sondern schien sogar von Gebietsgewinnen und einem »Siegfrieden« zu träumen. Ein Sturm der Entrüstung fegte MiljukowMiljukow, Pawel N. aus dem Amt. Eine Regierungsumbildung folgte. Alexander F. KerenskijKerenskij, Alexander F. übernahm das Kriegsministerium. Er hatte bislang, als einziger Repräsentant der Linken im Kabinett LwowLwow, Georgij J. (Fürst), das Justizwesen geleitet. An der Seite KerenskijsKerenskij, Alexander F. traten weitere sozialistische Politiker in die Regierung ein. Sozialisten-Revolutionäre und sozialdemokratische Menschewiki, die sich eigentlich auf die Räte stützten, halfen der schwächelnden Staatsführung auch deshalb, weil sie selbst auf die Übernahme der Macht schlecht vorbereitet waren.

      »Menschewiki« bedeutet im Russischen ›Gruppe der Minderheit‹ oder ›Minderheitler‹, eigentlich richtigerweise eher eine Bezeichnung für ihre Gegner, die Bolschewiki. Tatsächlich waren die Menschewiki als gemäßigtere Richtung der russischen Sozialdemokraten zunächst Lenin und seinen Mitstreitern keineswegs unterlegen. Allerdings verloren die alles andere als einheitlich auftretenden Menschewiki im Laufe des Jahres 1917 gegenüber den Bolschewiki beträchtlich an Boden. Im Sowjetkommunismus letztlich in die Illegalität gedrängt, gründeten sie die teilweise bis nach 1945 bestehende Parteiorganisation im Exil. Ähnliches galt für die Sozialisten-Revolutionäre und die Konstitutionellen Demokraten.

      Marxistische Kreise hielten in diesem Zusammenhang außerdem eine »bürgerliche« Phase der Revolution für notwendig. Unter den [26]gespaltenen Sozialdemokraten schwor allein LeninLenin, Wladimir Iljitsch seine Partei der Bolschewiki auf eine neue Taktik ein. Nach seiner von den feindlichen Mittelmächten unterstützten Rückkehr aus dem Exil orientierte er sich mit Friedenslosungen und der Forderung, die Räte an die Spitze des Staates zu stellen, an populären Vorstellungen von der Zukunft des Landes. LeninLenin, Wladimir Iljitsch präsentierte auf diese Weise eine Alternative zu dem von den übrigen Sozialisten mitgetragenen Regierungskurs. KerenskijKerenskij, Alexander F. und seine Ministerkollegen schienen unterdessen die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung nicht zu erkennen. Sie starteten im Juli 1917 eine neue große Offensive gegen die Mittelmächte, die sogenannte KerenskijKerenskij, Alexander F.-Offensive. Der Angriff endete in einem Desaster: Nicht nur war dem Vorstoß an den Fronten kein Erfolg beschieden, sondern es meuterten nun auch ganze Regimenter. Die Armee befand sich in Auflösung.

      Kriegsminister Alexander KerenskijKerenskij, Alexander F. (1881–1970, links) bei den Truppen im Juli 1917

      Teile der Streitkräfte stellten sich klar gegen die Staatsführung. Ein Maschinengewehrregiment in Petrograd und die Matrosen der Kronstädter Marinebasis, des bedeutenden Flottenstützpunktes an der Ostsee, zeigten sich entschlossen, die Provisorische Regierung aus dem Weg zu schaffen. Gemeinsam mit ihnen lehnte sich im Juli 1917 eine wachsende Zahl von Demonstranten gegen die bisherige Kriegspolitik auf. Der Gewaltpegel schnellte nach oben – die Februarereignisse schienen sich zu wiederholen. Erneut kamen viele Menschen zu Tode, bis schließlich die Proteste nachließen, ohne einen Systemwechsel bewirkt zu haben. Neben dem Einsatz von Kampfverbänden, die sich gegenüber der bedrängten Regierung loyal verhielten, [27]entschied


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