Palast aus Gold und Tränen. Christian Handel

Palast aus Gold und Tränen - Christian Handel


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sie jedoch erklärt, sie würde heute nicht verkaufen, sondern die Zeit mit uns verbringen. Nun schleppten Rose und ich üppig beladene Flechtkörbe, gefüllt mit Eiern, Milch und allerlei Eingekochtem, zu einem winzigen Tisch direkt am Dorfbrunnen, um den im Kreis herum die Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Wir stellten sie bei der Fischer-Anni ab, die heute Helenes Ware für diese mitverkaufen würde. Helene selbst besuchte gerade die Dorfbewohner, für die sie gestern frisches Brot in ihrem großen Backofen hinter dem Haus mitgebacken hatte. Gemeinsam mit Rose schlenderte ich währenddessen die Stände entlang, um das einzukaufen, was wir für unsere anstehende Reise benötigten. Beim hübschen Johann kauften wir zwei Dutzend Streifen getrocknetes Rindfleisch und bei Wilhelm Ledermacher eine neue Halterung für Rose’ Wasserflasche sowie mehrere Ersatzriemen für unsere Schnürstiefel. Mir waren einmal die Bänder mitten in einer Berggegend gerissen, die nächste Ortschaft meilenweit entfernt, und ich legte keinen gesonderten Wert darauf, noch einmal eine ähnliche Erfahrung zu machen.

      Irinas Tisch stand im Schatten eines mächtigen Ahorns. Darauf befanden sich zahlreiche Schälchen, in denen getrocknete Pflanzen lagen, zusammengebundene Kräutersträuße, verschlossene Tiegel und schlanke, mit Wachs versiegelte Tonflaschen. Als Irina uns kommen sah, strahlte sie übers ganze Gesicht.

      »Selbst hier hüpfen Vögel um sie herum«, murmelte Rose.

      Ich stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen.

      Wir warteten, bis Irina einer Kundin eine Salbe gegen Gelenkschmerzen verkauft hatte.

      »Wie geht es dir?«, fragte sie mich, nachdem wir uns begrüßt hatten.

      »Gut.« Das entsprach größtenteils der Wahrheit. Rein körperlich spürte ich vom Hexenfluch nichts. Es beunruhigte mich schlicht, dass die Symbole nicht verschwinden wollten – und dass uns die Zeit davonlief. Nicht zu wissen, was passieren würde, wenn die Symbole wieder zu wandern begannen, half nicht gerade dabei, ruhig zu bleiben.

      »Hast du Eberesche da?«, fragte ich, um mich abzulenken. Irina nickte. »Und ich brauche auch noch etwas getrockneten Klee.« Ich holte eine Glasphiole aus meiner Umhängetasche. Irina nahm sie entgegen und deutete mit dem Kopf nach rechts, wo eine große Weidenschale mit einem Tuch abgedeckt war. »Dort. Und Johanniskraut müsstest du auch finden. Ich habe es an Sonnwend geerntet.«

      Begeistert schlug ich das Tuch beiseite und betrachtete die Pflanzenbüschel, die darunter zum Vorschein kamen. Sowohl die roten Beeren der Eberesche als auch die gelben Blüten des Johanniskrauts versprachen Schutz gegen Geister, Elfen und allerhand anderes dunkles Gelichter. Ich wusste nicht genau, welche Wesen sich in den östlichen Wäldern herumtrieben, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Ganz sicher waren es nicht bloß Einhörner.

      »Wir sollen dir schöne Grüße von Björn ausrichten«, sagte ich möglichst beiläufig, während ich nach einem kleinen Sträußchen Lavendel griff. Er duftete nach Sommer und Frieden. Irina ging nicht darauf ein, doch ihr ganzes Gesicht begann zu strahlen.

      »Hast du gestern Nacht daran gedacht, den Trank zu nehmen?«, fragte sie, nachdem sie mir meine Einkäufe vorsichtig in ein Leinentuch eingewickelt und über den Tisch gereicht hatte.

      »Ja.« Beim Gedanken an den bitteren Geschmack der türkis­farbenen Flüssigkeit zog sich mein Mund zusammen.

      »Gut.«

      Rose half mir, das Bündel in meiner Tasche zu verstauen, während Irina begann, in der Weidenkötze zu wühlen, die neben ihr auf dem Pflaster stand.

      Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie ein dunkelgrünes Tuch in den Händen, das mit allerlei seltsamen Symbolen bestickt war – schlanke Runen, jedoch keine Insekten und Schlangen, wie ich erleichtert feststellte.

      »Schlagt das Buch darin ein«, wies sie uns an, als sie das Tuch Rose in die Hand drückte. »So oft wie möglich. Und passt auf, dass keine Ecke daraus hervorspitzt. Schnürt das Bündel damit zusammen.« Sie holte eine gedrehte Kordel aus hellen Wollfäden hervor. Ich war gespannt, wie lange sie auf der Reise, die uns bevorstand, sauber bleiben würde.

      »Da ist noch etwas«, murmelte Irina leise, während sie mit gesenktem Kopf die getrockneten Pflanzenstängel auf dem Tuch vor sich sortierte. »Wenn … Falls ihr der Baba Yaga wirklich begegnet …«

      »Ja?«

      »Sagt ihr …« Irina holte tief Luft. »Sagt ihr, Vasilisas Enkelin schickt euch.«

      Ich hob eine Augenbraue, sagte allerdings nichts. Ebenso wenig Rose. Wir warteten beide geduldig, bis Irina weitersprach. »Es gibt zahlreiche Geschichten über Menschen, die die Hexe aufgesucht und um Hilfe gebeten haben. Die meisten davon gehen nicht gut aus. Meiner Großmutter hat sie allerdings kein Haar gekrümmt. Sie hat ihr aus großer Not geholfen.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ihr Blick verlor sich in der Vergangenheit. »›Sie ist mächtiger, als du dir jemals vorstellen kannst, Irinuschka‹, hat sie immer gesagt. ›Sie kann sehr grausam sein, aber sie schadet nie jenen, die mutig und reinen Herzens sind. Und das ist das Wichtigste: Zeig niemals Angst! Die Baba Yaga labt sich an ihr. Wenn du der Hexe begegnest, tritt ruhig und selbstbewusst auf. Sie hat eine Schwäche für mutige Mädchen.‹«

      Irina blickte uns wieder direkt an. »Ich glaube nicht, dass ich der Baba Yaga je begegnen werde. Und ich weiß nicht, ob euch der Name meiner Großmutter schützen wird. Einen Versuch ist es jedoch wert.«

      Aus einem Impuls heraus griff ich über den Tisch hinweg und drückte ihre Hand. »Danke. Wir können jeden Schutz gebrauchen, den wir bekommen können.«

      Irina lachte bitter auf. »Das befürchte ich auch.«

      Noch einmal griff sie in ihre Kötze. Diesmal fischte sie ein braunes Ledertuch hervor. Als sie es aufwickelte, kamen unsere Waffen zum Vorschein. Liebevoll betrachtete ich die winzige Scharte am Knauf meines Silberdolchs. Als ich nach ihm griff, hielt Irina mich auf. »Nimm den anderen.«

      »Warum?« fragte Rose sofort misstrauisch.

      Irina kam um den Tisch herum. »Weil ich eure Dolche mit einem Zauber belegt habe.«

      Wirkte meine Klinge deshalb matter als sonst? Sie reflektierte kaum die Morgensonne. Rose’ Dolch hingegen glänzte silbern wie eh und je.

      Ich ignorierte Irinas Einwurf und griff nach meiner Waffe. Es fühlte sich gut an, sie in den Händen zu halten. Nicht anders als sonst. Neugierig drehte ich ihn hin und her. Das einzig Seltsame war die Färbung der Schneide.

      »Was hast du damit gemacht?«

      Irina trat einen Schritt näher. »Es ist ein Zauber, den mir ein Geister­heiler in der Heimat meines Vaters beigebracht hat. Durch euer Blut und euer Haar sind eure Dolche jetzt mit euch verbunden. Sie spiegeln eure Verfassung. Solange die Klingen silbern glänzen, ist alles in bester Ordnung. Falls ihr euch trennen müsst, könnt ihr die Waffen tauschen und seht so immer, wie es der jeweils anderen geht.«

      Ich hob meinen Dolch in die Höhe. »Seine Klinge ist matt«, sagte Rose. »Liegt das an dem Hexenfluch?«

      Irina nickte. »Sorge dich deshalb nicht zu sehr. Solange die Klinge nur matt ist, heißt das, du bist krank. Wenn sich die Klinge allerdings rostbraun färbt, schwebst du in ernsthafter Gefahr.« Irina blickte Rose an. »Wenn das geschieht, weißt du, dass Muireann umgehend Hilfe braucht. Dann dürft ihr nicht aus falschem Stolz zögern, eine Hexe um Hilfe zu bitten.«

      Rose nickte ernst und streckte mir die Hand entgegen, damit ich ihr meinen Dolch geben konnte. Aufmerksam musterte sie das angelaufene Silber.

      Irina trat zu uns. »Wenn die Klinge schwarz wird …«

      »Ja?«, fragte ich. Ich ahnte ihre Antwort bereits, aber ich musste es hören.

      Sie holte tief Luft. »Dann kommt jede Hilfe zu spät.«

      Das Feentor

      Der Jungfernfelsen war eine hohe Gebirgsnadel, die sich am Ufer des Mains steil in die Lüfte reckte. Er war weithin sichtbar, weil er hoch über die Wipfel der Laubbäume hinausragte, die den Fluss zu beiden


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