Palast aus Gold und Tränen. Christian Handel

Palast aus Gold und Tränen - Christian Handel


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in der Mitte des Raums, direkt auf dem Boden der kleinen Dachkammer. Ein Dutzend Kerzen spendete flackerndes Licht. Wachs rann an ihnen herunter und tropfte auf die Dielen. Im ganzen Zimmer duftete es nach Honig. Ich schloss den Kreis, den ich in großzügigem Abstand um das Buch gezogen hatte, und kniete mich neben Rose. Sie schenkte mir ein nervöses Lächeln und ich drückte kurz meine Lippen auf ihren Mund. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und wünschte, ich würde mich so selbstsicher fühlen, wie ich mich gab.

      »Mach ich nicht.«

      Rose log, das wusste ich. Vor uns lag das Zauberbuch einer Hexe, die unzählige Kinder abgeschlachtet hatte. Es war so lang wie mein Unterarm und so dick wie ein Ziegelstein. Seine Seiten bestanden aus vergilbtem Pergament und das Leder, in das es gebunden war, schien schwarz wie die Nacht. In den letzten Monaten hatte ich mich oft gefragt, welche finsteren Geheimnisse es beherbergte. Bisher hatte ich dem Drang, es aufzuschlagen, widerstehen können. Vermutlich half es, dass Rose das Buch in ihrem Rucksack verwahrte, und nicht ich.

      Seit mehreren Monden suchten wir nach der Eigentümerin des Grimoires – erfolglos. Jede noch so kleine Spur war im Sand verlaufen und allmählich gingen uns die Ideen aus. Das Zauberbuch musste uns einfach einen Hinweis darauf liefern, wohin die Hexe geflohen war.

      Nervös blickte ich zur Tür.

      Rose legte mir die Hand auf die Schulter. »Keine Bange. Nach dem Abendessen stört uns hier niemand mehr.«

      Bei dem Gedanken, dass uns ihre Mutter oder ihre Schwester unvorbereitet erwischten, wurde mir gleichzeitig heiß und kalt. Rose und ich waren bereits seit mehreren Jahren ein Paar und ihre Familie hatte das längst akzeptiert. Es gab dennoch Dinge, von denen es mir lieber war, dass sie sie nicht zu Gesicht bekamen. Dazu zählte auch die Zauberei. Noch hatte ich nicht den Mut aufgebracht, ihnen zu gestehen, dass ich magische Kräfte besaß. Es war schwer genug gewesen, Rose die Wahrheit zu sagen, und sie liebte mich bedingungslos.

      Deshalb hatte ich auch den Salzkreis gezogen. Ich wollte nicht, dass irgendwelche Geräusche, die bei dem entstanden, was wir vorhatten, nach außen drangen.

      »Ich bin so weit.« Entschlossen schlug ich das Buch auf.

      Seltsame Schriftzeichen, Symbole und Illustrationen zogen sich über das Papier. Sie waren mit roter und blauer Tinte gemalt, in einer schön geschwungenen, regelmäßigen Handschrift. Die wenigsten davon konnte ich lesen.

      Neben einem Text, der dem Versmaß zufolge ein Gedicht oder Spruch war, ringelte sich die Silhouette einer Schlange. Auf der nächsten Seite war erstaunlich detailverliebt eine Waldpflanze gemalt, ihre einzelnen Bestandteile mit winzigen, akkuraten Buchstaben beschriftet.

      Das half mir nicht. Ich blätterte um. Weitere Schriftzeichen, weitere Symbole. Auch sie konnte ich nicht lesen. Also blätterte ich noch einmal um. Und noch mal.

      »Verstehst du, was dort steht?«, fragte Rose.

      Ich schüttelte den Kopf. Mit den Fingern fuhr ich die Linie einer Eulenzeichnung nach.

      »Schlag es weiter hinten auf. Vielleicht steht da ja etwas, was wir lesen können.«

      Ich schlug das Buch in der Mitte auf und blätterte einige Seiten vorwärts. Die Handschrift blieb die gleiche, auch wenn die Linienführung aggressiver geworden war und die Zeichnungen immer düsterer. Statt Pflanzen und Vögel bedeckten nun seltsame Hybridwesen die Seiten. Eine Kreatur besaß den Rumpf und die Schwanzspitze eines Raben, aber einen reptilienartigen Hals und Kopf. Es gab Totenköpfe, aus deren Augen Flammen loderten. Und ein menschliches Herz, durch dessen Muskelfleisch sich Würmer fraßen.

      Als ich die nächste Seite umblätterte und eine Pastete erkannte, musste ich würgen. Auch Rose hinter mir stöhnte auf. Wir hatten das Grimoire in der Hütte einer Waldhexe gefunden, die ihre Zauberkraft dadurch genährt hatte, dass sie sich von Kindern ernährte. Die Geister ihrer Opfer hatten mich durch Visionen daran teilhaben lassen, was mit ihnen geschehen war. Die Zeichnung der Pastete weckte in mir die Erinnerung an Margarete und ihren Bruder Hans, die von der Hexe gezwungen wurden, mit menschlichen Innereien gefülltes Backwerk zu verspeisen.

      »Du musst das nicht tun.« Rose streichelte meinen Oberarm. »Wir können aufhören. Vermutlich ist das Grimoire auch nichts anderes als eine weitere Sackgasse.«

      Margarete und Hans waren die letzten Opfer der Hexe gewesen. Ich hatte geschworen, sie zu rächen. Dazu musste ich ihre Mörderin jedoch erst einmal finden.

      Deshalb beugte ich mich nach vorn. »Eins haben wir noch nicht probiert.«

      »Du willst eine Vision heraufbeschwören.«

      Ich nickte.

      »Ich weiß nicht …« Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.

      »Du hast mich auch in der Hütte beschützt.«

      »Damals hatten wir keine andere Wahl.«

      Das stimmte. Warum die Visionen damals zu mir gekommen waren, wusste ich bis heute nicht. Sie hatten mich dann überkommen, wenn ich einen bestimmten Gegenstand berührte. Damals hatte ich geglaubt, dass die Visionen mich gesucht hatten; dass die Geisterkinder sie vielleicht geschickt hatten. In meinem ganzen Leben war ich nie zuvor von Visionen übermannt worden. Aber Hellsicht war eine Fähigkeit, die man den Selkies nachsagte, und ich fragte mich, ob ich sie, wie so vieles andere, von meiner Mutter geerbt haben könnte. Ich erinnerte mich an einen Spruch, den sie geflüstert hatte, wenn sie vor einer mit Meerwasser gefüllten Schüssel stand oder im Dunkeln vor einem Fenster, gegen das von außen der Regen peitschte. Manchmal hatte sich dann statt ihres Abbildes etwas anderes in der Scheibe gespiegelt: schaumgekrönte Wellenkämme, eine geheimnisvolle Unterwasserwelt, in der sich farbenprächtige Fischschwärme tummelten, das kleine Boot meines Vaters im Sturm. Solange meine Mutter bei uns lebte, war er immer sicher nach Hause gekommen. War es ihr Zauber gewesen, der uns beschützt hatte?

      »Ein Versuch«, drängte ich. »Du hast es mir versprochen.«

      Rose grummelte. Trotzdem rappelte sie sich auf und ging hinüber zu der eisenbeschlagenen Truhe, die am Fußende des Bettes stand. Sie hielt es für keine gute Idee, mit meinen magischen Fähigkeiten zu experimentieren. Missmutig öffnete sie den Deckel, kramte darin herum und kam mit einer bronzenen Schüssel und einer kleinen Glasphiole zurück.

      »Wehe, du bist nicht vorsichtig.«

      Achtsam stieg sie über die Salzlinie und drückte mir die Gegenstände in die Hand. Ich lächelte und wartete, bis sie sich wieder neben mich gesetzt hatte. Dann stellte ich die handtellergroße Schale vor mir auf den Boden und schüttete getrocknete Mondraute aus der Phiole hinein. Ich überlegte, ob ich die Pflanzenblätter mit einem Zauber zum Brennen bringen sollte, entschied mich aber dagegen. Rose mochte akzeptiert haben, dass Magie in meinem Blut floss. Deshalb musste sie das noch lange nicht mögen. Ich wollte den Bogen nicht überspannen. Also griff ich nach einer der Kerzen und entzündete mit deren Flamme vorsichtig das Kräutergemisch. Wachs tropfte mir dabei auf die Hand. Ich zischte, mehr erschrocken als vor Schmerz, und reichte Rose die Kerze. Dann beugte ich mich über die Schale. Rauch stieg auf, tanzte als dünne Säule der Decke entgegen. Sein säuerliches Aroma kitzelte mir in der Nase. Ich war froh, den Salzkreis gezogen zu haben, denn so würden weder Geräusche noch der Geruch der verbrennenden Kräuter nach außen dringen.

      Ich zwang mich dazu, langsam und tief einzuatmen, und ließ den Rauch seine Wirkung entfalten. Mein Herz begann schneller zu schlagen, Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Nach einem halben Dutzend Atemzügen schob ich die Schale beiseite und legte die Handflächen auf das Pergament. Rau wie poröser Stein fühlte es sich unter meinen Fingern an, schuppig und warm wie die Haut einer Schlange.

      Was hatte meine Mutter damals immer geflüstert?

      Seit sie mich und meinen Vater vor vielen Jahren verlassen hatte, um zu ihrem Volk zurückzukehren, hatte ich mich nach Kräften bemüht, alles zu vergessen, was mit ihr zu tun hatte. Es war nicht leicht, sich jetzt wieder an Einzelheiten zu erinnern.

      Der Geruch der verbrennenden Kräuter veränderte sich. Er wurde weniger würzig, dafür frischer, salziger.

      »Tha


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