Palast aus Gold und Tränen. Christian Handel

Palast aus Gold und Tränen - Christian Handel


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auf die Seiten vor mir und zwang mich, geduldig zu bleiben. Zauber brauchten ihre Zeit. Dann spürte ich ein Kribbeln in meinem Bauch und unter meinen Handflächen und wusste: etwas geschah.

      Der Salzgeruch wurde schwächer und die Symbole auf dem Pergament begannen plötzlich an Kontur zu verlieren. Mein Blick trübte sich, als hätte ich Tränen in den Augen, und Rose und die Dachkammer traten in den Hintergrund. Die Tintenschlange, deren Schwanzspitze zwischen meinen Fingern hervorlugte, zuckte auf dem Pergament. Plötzlich gaben die Seiten nach. Meine Hände versanken im Grimoire wie in Flussschlamm. Der Rauch aus der Schale …

      … verwandelt sich in Schnee.

      Eiskristalle tanzen um mich herum und ein scharfer Wind bläst mir ins Gesicht. Sonst ist da nichts. Ich kneife die Augen zusammen, um mich vor den Flocken zu schützen, die die Böen mir entgegenwehen. Ihr Kuss brennt auf meiner Haut. Alles um mich herum ist weiß. Obwohl ich keine Ahnung habe, wo ich bin, weiß ich instinktiv, dass ich mich inmitten einer riesigen Ebene befinde, schutzlos den Launen der Natur ausgeliefert. Ich blicke mich nach Rose um, vergeblich. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich will

      »Muireann! Lass sofort das Buch los!«

      Rose’ Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. Die Schneelandschaft um mich herum verschwand. Ich befand mich wieder in der Dachkammer. Rose hatte meine Hände gepackt und vom Buch gezerrt.

      Ich blinzelte, brauchte einen Moment, bis ich wieder richtig bei mir war.

      »Es war seltsam«, sagte ich träge. »Ich habe etwas gesehen. Anders, aber auch ähnlich der Visionen im Hexenhaus …«

      »Muireann«, unterbrach mich Rose scharf und die Furcht in ihrer Stimme ließ mich zusammenzucken. »Deine Hände!«

      Verwirrt blickte ich nach unten. Eine dunkelblaue Tintenspur schlängelte sich um die Finger meiner rechten Hand. Ich erstarrte. Es handelte sich um die Kreuzotter aus dem Buch. Während ich ungläubig auf sie hinunterstarrte, sah ich, dass sie ihren Kopf zwischen meinem Ringfinger und Mittelfinger hindurchsteckte und sich langsam über meinen Handrücken schob. Reflexartig schüttelte ich die Hand, doch das störte die Schlange nicht. Sie kringelte sich um mein Gelenk und wanderte weiter nach oben. Sie war nicht das einzige Symbol, das seinen Weg vom Buch auf meine Haut gefunden hatte.

      Die beiden aufgeschlagenen Pergamentseiten vor mir waren leer. Stattdessen wuselten auf meinen Händen und Unterarmen Buch­staben, Linien und unverständliche Symbole wie lebendige Tätowierungen. Tatsächlich spürte ich sie gar nicht, aber sie machten mir Angst.

      »Was ist das?!« Rose klang panisch.

      Ich streckte die Hände weit von mir. Ich hatte keine Ahnung. »Verschwinde aus dem Salzkreis!«

      Rose schüttelte den Kopf.

      Im Kerzenflackern schienen die flachen Tätowierungen Schatten zu werfen.

      »Du musst«, presste ich so ruhig wie möglich hervor. »Ich sollte die Linie nicht übertreten. Bring mir Salbei. Und Rosenwasser. Aus der Truhe. Schnell.«

      Ohne ein weiteres Wort stand Rose auf und sprang zur Truhe hinüber. Beinahe hätte sie dabei den Salzkreis mit dem Fuß verwischt. Das hätte gerade noch gefehlt.

      Während Rose hinter mir herumkramte, heftete ich meinen Blick wieder auf die Symbole aus dem Hexenbuch, die an meinen Armen höher und höher kletterten. Inzwischen hatten sie fast meine Ellenbogen erreicht. Ich versuchte, tief durchzuatmen und so die Angst zu unterdrücken, die in mir aufstieg. Verzweifelt zermarterte ich mir das Hirn. Was auch immer wir jetzt taten, wir mussten schnell handeln.

      »Bring mir die roten Bänder von deiner Schwester mit.«

      Leni hatte mir zum Winterfest zwei dunkelrote Haarbänder geschenkt, die sie selbst mit einem aufwendigen Muster aus goldenem Faden bestickt hatte. Die Bänder hatten beinahe die Farbe von Rose’ Haaren. Sie waren wunderschön.

      Mein Herz verkrampfte sich, als ich daran dachte, was als Nächstes zu tun war.

      »Schneide sie in vier Teile. Bitte beeil dich!«

      Den Zeigefinger meiner rechten Hand drückte ich vorsichtig auf eine dunkelblaue Rune, die auf der Innenseite meines linken Unterarms zitterte. Nichts. Ich spürte gar nichts. Und das Symbol ließ sich von meiner Berührung nicht beeindrucken.

      Da war Rose wieder heran und ließ Stoffbeutelchen und ein mit Wachs zugepfropftes Tongefäß zu Boden gleiten. Sie zog ihren Dolch und einen Augenblick später flatterten vier rote Bänder auf den Dielen­boden.

      »Was hast du vor?«

      »Du musst mir helfen.«

      »Was soll ich tun?«

      »Ich werde gleich ein paar Blätter Salbei kauen und einen Spruch aufsagen«, erklärte ich ihr, während ich hastig die Beutel durchsuchte. »Sobald ich damit fertig bin, musst du die Bänder nehmen und mir jeweils eins um jeden Oberarm binden, oberhalb des Bereichs, auf dem sich die Zeichen befinden. Wir müssen ihnen den Weg abschneiden.«

      Ich öffnete das Tongefäß mit dem Rosenwasser und tauchte die Bänder hinein.

      »Die anderen beiden Bänder binden wir danach um meine Handgelenke. Wir sperren die Tintenzeichen ein, verstehst du?«

      »Nein.« Rose schluckte und griff nach den Bändern. »Aber das ist egal. Du kannst es mir später erklären.«

      »Danke«, sagte ich und steckte mir ein paar getrocknete Salbeiblätter und etwas Minze in den Mund. So schnell wie möglich kaute ich darauf herum. Das intensive Aroma der Pflanzen breitete sich auf meiner Zunge aus.

      »Du musst die Knoten sorgfältig knüpfen. Die Bänder dürfen nicht verrutschen.«

      Mit der Rechten schob ich meinen Hemdsärmel nach oben und streckte ihr meinen Arm entgegen. Eine winzige Tintenkröte schwamm gerade auf meine Armbeuge zu.

      »Stad! Chan eil an córr.«

      Rose zögerte nicht. Sie wand das rote Band um meinen Oberarm, knüpfte einen Knoten und zog ihn zu. Dann griff sie nach dem nächsten Band und kümmerte sich um meinen anderen Arm. Ich unterdrückte ein nervöses Lächeln.

      »Du brauchst keine Angst davor zu haben, mich zu berühren«, versprach ich ihr. »Ich glaube, der Zauber soll mich mehr aufwühlen als mir schaden. Dir sollte er nichts anhaben.«

      »Seit wann bist du eine Sachkundige für Hexenflüche?« Rose’ Stimme klang scharf, doch ich war mir sicher, dass das nur an ihrer Sorge um mich lag.

      »Jetzt die Handgelenke«, sagte ich, nachdem sie auch den zweiten Knoten festgezurrt hatte. »Bitte nicht so fest. Den Bändern kommt eher eine symbolische Bedeutung zu. Du brauchst mir nicht das Blut abzuschnüren.«

      Rose hob eine Augenbraue. »Zu fest?« Sie blickte auf meinen Oberarm, wo sich die Tintenfiguren am Rand des roten Bandes stauten wie an einem Damm. Sie schoben sich aufeinander und überlagerten sich, bis eine Handfläche breit keine helle Haut mehr zu sehen war.

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Warum auch noch die Handgelenke? Vielleicht musst du nur abwarten und die Zeichen wandern wieder in die andere Richtung und verschwinden von selbst.«

      »Vielleicht. Irgendwie glaube ich das nicht. Wenn wir noch rote Bänder an den Unterarmen verknoten, stehen die Chancen gut, dass wir diese … Symbole einkesseln und sie sich nicht zum falschen Zeitpunkt über meine Finger und Handflächen schlängeln. Oder was denkst du, was deine Mutter sagen wird, wenn ich ihr beim Kochen eine Kartoffel reiche und sie plötzlich eine Schabe aus Tinte von meiner Handfläche aus anstarrt?«

      Rose seufzte und griff nach dem letzten Bandstück. »Hast du schon eine Idee, wie wir die Dinger endgültig loswerden?«

      »Keine, außer der offensichtlichen.«

      »Irina«, grummelte Rose.

      »Sie wird wissen, was zu tun ist.«

      »Wir jagen Hexen. Wir sollten


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