Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Erwin Breitenbach
aus entwicklungs- oder sozialpsychologischer oder diagnostischer Perspektive, aber sie stellen zumindest den ernsthaften Versuch dar, eine Art spezifisch heilpädagogische Psychologie zu etablieren.
Die Begriffe »heilpädagogische Psychologie« oder »sonderpädagogische Psychologie« legen nahe, dass es entsprechend der pädagogischen Psychologie eine eigenständige anwendungsorientierte psychologische Disziplin im sonderpädagogischen Handlungsfeld gäbe. In keinem in die Psychologie einführenden Werk tritt jedoch neben den traditionellen Teildisziplinen wie etwa Entwicklungs-, Sozial-, differentieller oder pädagogischer Psychologie die heil- oder sonderpädagogische Psychologie in Erscheinung. Während Paul Moors »Heilpädagogische Psychologie« vielleicht eher als psychologische Heilpädagogik zu bezeichnen wäre, werden von allen anderen Autoren unter der Überschrift »heilpädagogische oder sonderpädagogische Psychologie« vielmehr all diejenigen Erkenntnisse aus den Teildisziplinen der Psychologie zusammengetragen, die bereits Einzug in den breiten Wissenskanon der Heil- oder Sonderpädagogen gehalten haben oder es künftig tun sollten, weil sie eben als in heil- und sonderpädagogischen Handlungs- und Begründungszusammenhängen bedeutsam erachtet werden.
Die sonderpädagogische Diagnostik kann noch am ehesten als ein spezifisch heilpädagogisch-psychologisches Themenfeld betrachtet werden. Selbstverständlich ist auch sie aus der psychologischen Diagnostik heraus entstanden, beruft sich in weiten Teilen auf deren theoretische Grundlagen und erhält ständig neue Impulse von ihr. Mit dem Begriff und Konzept der Förderdiagnostik haben jedoch zahlreiche Sonderpädagogen und Psychologen immer wieder versucht, trotz heftigster Kritik, eine sonderpädagogisch-eigenständige diagnostische Theorie zu formulieren. Darüber hinaus wurden innerhalb der sonderpädagogischen Diagnostik Instrumente und Verfahren wie z. B. Fehleranalyse, schulisches Standortgespräch, Konsulentenarbeit oder das curriculumbasierte Messen mit seinen informellen Aufgabensammlungen und Kompetenzinventaren entwickelt, die speziell auf die Besonderheiten im heil- und sonderpädagogischen Arbeitsfeld ausgerichtet sind und die im Rahmen der psychologischen Diagnostik keine Anwendung finden. Die besondere Bedeutung der Diagnostik innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik wird auch deutlich, wenn diagnostische Kompetenzen von Moser (2005) zu den zentralen Professionsmerkmalen von Sonderpädagogen gezählt werden, oder sie zeigt sich auch in den Ergebnissen einer Analyse gängiger sonderpädagogischer Fachzeitschriften von Buchner und Koenig (2008): Nach dem Themenbereich Schule nimmt Diagnostik und Therapie den zweiten Platz bei der Häufigkeit der in den analysierten Fachzeitschriften aufgegriffenen und bearbeiteten Fragestellungen ein.
Um den oben beschriebenen Missverständnissen auszuweichen, wurde für das hier vorliegende Buch der Titel »Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik« gewählt. Inhaltlich steht an prominenter erster Stelle die sonderpädagogische Diagnostik mit ihren Ursprüngen in der psychologischen Diagnostik und den charakteristischen Besonderheiten der Förderdiagnostik sowie den vielfältigen unterschiedlichen diagnostischen Instrumenten und Methoden. Daran schließen sich neuropsychologische Erkenntnisse zu Gedächtnis, Handlungsplanung, Aufmerksamkeitssteuerung und Motivation an, die als bedeutsam und grundlegend für das Verstehen von Lernprozessen zu sehen sind. Das Feststellen von Entwicklungsverzögerungen oder das Verringern und Aufholen derselben durch entwicklungsorientierte Förderung und Therapie erfordern zwangsläufig ein Wissen über Entwicklung und entsprechende Entwicklungsverläufe. Teil 3 bringt dem geneigten Leser dieses Wissen näher. Bei der Zusammenstellung der neuropsychologischen und entwicklungspsychologischen Wissensbestände wurden zwar die wenigen aktuellen behinderungsspezifischen Befunde aufgenommen, aber grundsätzlich lag der Fokus auf der Vermittlung eines für alle sonderpädagogischen Fachrichtungen relevanten Wissens.
Literatur
Borchert, J. (Hrsg.) (2000): Handbuch der sonderpädagogischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Bundschuh, K. (2008): Heilpädagogische Psychologie. München: Reinhardt.
Buchner, T. & Koenig, O. (2008): Methoden und eingenommene Blickwinkel in der sonder- und heilpädagogischen Forschung von 1996–2006 – eine Zeitschriftenanalyse. In: Heilpädagogische Forschung 34, 15–34.
Fengler, J. & Jansen, G. (Hrsg.) (1987): Handbuch der heilpädagogischen Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
Moor, P. (1960): Heilpädagogische Psychologie. Bd. 1 und 2. Bern: Huber.
Moser, V. (2005): Diagnostische Kompetenz als sonderpädagogisches Professionsmerkmal. In: V. Moser & E. von Stechow (Hrsg.): Lernstands- und Entwicklungsdiagnosen. Diagnostik und Förderkonzeption in sonderpädagogischen Handlungsfeldern. Festschrift für Christiane Hofmann zum 60. Geburtstag. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 29–41.
1 Vom Nutzen und der Notwendigkeit
Nicht immer waren und sind Fachleute im sonderpädagogischen Handlungsfeld vom Nutzen und der Notwendigkeit der Diagnostik überzeugt. Trotz geradezu überwältigender empirischer Belege für ihre Nützlichkeit, in jüngster Zeit vor allem durch die Bildungsforschung vehement vorgetragen, melden sich von Zeit zu Zeit Skeptiker mit immer gleicher grundsätzlicher Kritik an der Diagnostik zu Wort.
Diese mittlerweile müßige und meist von geringem Fachwissen getragene Diagnostikkritik erstarkt momentan erneut angesichts der Forderung nach einem inklusiven Erziehungs- und Bildungssystem. Die einen betonen die zunehmende Bedeutung diagnostischer Kompetenzen im Rahmen inklusiven Unterrichtens; für andere wird das Diagnostizieren durch Inklusion nun endgültig überflüssig, weil kontraproduktiv.
1.1 Diagnostische Kompetenz von Lehrkräften
Probst (1999) erhob in einer kleinen Studie das Image der Diagnostik bei Studierenden am Beginn ihrer Diagnostikausbildung mit der Methode des semantischen Differentials. Dazu forderte er 152 Studierende auf, die beiden Begriffe »Diagnostik« und »Förderung« entlang einer Liste von 21 polar angeordneten Eigenschaftspaaren einzustufen. Die Diagnostik wurde von den so Befragten eher mit Eigenschaften wie ernst, hart, streng, klärend, technisch, unsympathisch, mathematisch, nützlich, kühl, stark, repressiv, intellektuell in Verbindung gebracht, während die Förderung eher Eigenschaftsassoziationen wie weich, humanistisch, sympathisch, aktiv, engagiert, offen, optimistisch, flexibel, befreiend, warm, gefühlvoll, nützlich und musisch auslöste. Nach Probst (1999) illustriert dieser kleine empirische Einblick die bange Achtung der Studienanfänger oder Laien vor der Diagnostik als einer ungeliebten Notwendigkeit.
Paradies, Linser und Greving (2007) bedauern und kritisieren, dass sowohl an der Universität als auch im Referendariat Lehrer, mit Ausnahme der Sonderpädagogen, kaum mit dem Prozess des Diagnostizierens konfrontiert werden, wie wohl sie während des Unterrichtens permanent diagnostizieren, allerdings häufig, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Kontrastierend stellen sie dieser bedauernswerten Tatsache die Standards der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Lehrerausbildung im Kompetenzbereich »Beurteilen« gegenüber. Hier ist zu lesen, dass Lehrer die Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülern diagnostizieren, um diese gezielt in ihrem Lernen zu fördern und zu beraten und dass Lehrkräfte die Leistungen von Schülern auf der Grundlage transparenter Beurteilungsmaßstäbe erfassen. Dieses deutliche Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit versuchen Hesse und Latzko (2009) mit einer ständig wiederkehrenden Diagnostikfeindlichkeit der Pädagogen zu erklären. Die Schwankungen in der Wertschätzung und Anwendung pädagogischer Diagnostik sei im deutschen Bildungswesen unübersehbar und alle vorgetragenen Vorurteile gegenüber einer wissenschaftlichen Diagnostik mit effektiven und standardisierten Verfahren bestünden auch nach der mit PISA markierten Wende weiter.
Wie stellen sich nun die diagnostischen Kompetenzen tatsächlich im Spiegel empirischer Forschung dar?
Grassmann et al. (2002) untersuchten, inwieweit Lehrkräfte die Kenntnisse ihrer Schüler speziell im Anfangsunterricht Mathematik einschätzen können und stellen am Ende ihrer Studie, in die 830 Schüler einbezogen wurden, fest, dass die Einschätzung der Lehrkräfte signifikant von den in der Studie gemessenen Leistungen ihrer Schüler abwichen. Ähnliches berichten Hesse und Latzko (2009) von der Schulstudie SALVE (Systematische Analyse des Lernverhaltens