Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Erwin Breitenbach
lese-rechtschreibschwacher Kinder einschätzen und welche sie in der Praxis einsetzen würden. Ähnlich wie bei den Lehrkräften gab es bei der Einschätzung der Effektivität keine signifikanten Unterschiede zwischen den Studierenden der Sonderpädagogik und denen der Lehrämter für allgemeine Schulen. In beiden Gruppen besteht gleichermaßen die Tendenz, wirksame Konzepte zu unter- und unwirksame zu überschätzen, allerdings sind Studierende der Sonderpädagogik eher bereit, ineffektive Wahrnehmungs- und Motoriktrainings in der Förderung einzusetzen. Auch Schweizer schulische Heilpädagoginnen offenbaren in einer Online-Umfrage von Sodoge (2010) einen eklatanten Kompetenzmangel bei der Beurteilung von Konzepten, Materialien und Strategien zur Förderung lese-rechtschreibschwacher Kinder. Alle bekannten und zur Diskussion gestellten Fördermethoden halten sie für gleich wirkungsvoll und der Fokus ihrer Fördermaßnahmen zielt in erster Linie auf die ganzheitliche Stabilisierung der Persönlichkeit. Die große Bedeutung einer sprachspezifischen Förderung bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und die mittlerweile gut evaluierten Fördermethoden und Förderstrategien sind ihnen offensichtlich nicht hinreichend bekannt. Vergleichbare Kompetenzmängel decken Schmidt und Schabmann (2016) bei deutschen Referendaren auf.
In einer empirisch-qualitativen Studie von Luder et al. (2006) sollte die förderdiagnostische Praxis durch eine mündliche Befragung von 39 Schweizer Lehrerinnen und Lehrern an Klein- und Sonderklassen oder in Modellen der integrativen schulischen Förderungen untersucht werden. Dabei interessierten vor allem folgende Fragen: Welche förderdiagnostischen Konzepte verfolgen Lehrkräfte in der Praxis? Wie gehen sie bei der Erfassung des Lernstandes vor? Wie werden Förderziele bestimmt und Fördermaßnahmen geplant und wie erfolgt eine Evaluation und Anpassung der Fördermaßnahmen? Die Befragungsergebnisse zusammenfassend, halten Luder, Niedermann und Buholzer (2006) fest, dass vorhandene Materialien, Tests und förderdiagnostische Hilfsmittel zur Lernstandserfassung nur selten eingesetzt werden und dass sich die Lehrkräfte bei der Planung der Fördermaßnahmen sehr stark von der Situation beeinflussen lassen. Theoriegeleitete Konzepte zur förderdiagnostischen Arbeit stehen eher nicht zur Verfügung und sind somit auch nicht handlungsrelevant. Die Evaluation der Fördermaßnahmen erfolgt eher während der Förderung des Kindes; eine explizite und geplante Evaluation scheint dagegen in der Praxis nicht stattzufinden. Die Reflexion des förderdiagnostischen Prozesses als zentraler Aspekt der alltäglichen heilpädagogischen Tätigkeit ist relativ selten zu finden, stattdessen eher ein unprofessionelles, teilweise willkürlich anmutendes Vorgehen.
Gerne wird behauptet, dass sich die Beurteilung der Schüler durch ihre Lehrkräfte verbessere, wenn diese ihre Schüler besser kennen und verstehen. Oerke et al (2016) machen mit ihren Untersuchungsergebnissen auch diese Hoffnung zunichte. Der erste Eindruck einer Lehrkraft von einem Schulkind erweist sich als sehr stabil und durch spätere Erfahrungen kaum beeinflussbar. Darauf zu bauen, dass die diagnostischen Kompetenzen von Lehrern mit Zunahme der Berufserfahrung an Qualität gewinnen, stellt sich im Lichte empirischer Studien ebenfalls als unbestätigte Annahme heraus (Praetorius et al. 2011).
1.2 Diagnostische Aufgaben und geforderte Kompetenzen
Diese häufig beklagten Defizite bei den diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften sind umso schmerzhafter, als eine Reihe wichtiger diagnostischer Aufgaben im pädagogischen Bereich zu bewältigen sind und da nachgewiesenermaßen andere Kompetenzen davon mit betroffen werden.
So fanden Klug et al. (2012) einen signifikanten Zusammenhang zwischen der diagnostischen Kompetenz und der Beratungskompetenz bei Lehrkräften. Obwohl korrelative Zusammenhänge nicht ohne Weiteres kausal interpretiert werden können, vermuten die Autoren, dass eine gründliche Diagnostik wohl einem guten Beratungsgespräch zeitlich vorausgeht und es ermöglicht. Internationale Vergleichsstudien zeigen unmissverständlich, dass Schulsysteme, in denen differenziert diagnostiziert und darauf aufbauend individuell gefördert wird, in vielen Beziehungen unserem deutschen Schulsystem überlegen sind (Deutsches PISA-Konsortium 2001; 2002). Auch Ingenkamp (1989) verweist auf zahlreiche Untersuchungen zur Bedeutung individueller Lernbedingungen von Schülern, in denen offensichtlich wird, dass der Lernerfolg der Schüler in erheblichem Maße von den diagnostischen Kompetenzen der Lehrkräfte abhängt und Paradies, Linser und Greving (2007) konstatieren, dass für das schwache Abschneiden Lernender die zu gering ausgeprägte Diagnosekompetenz von Lehrern verantwortlich sei, denn wer Lernrückstände nicht erkennt, kann diese auch nicht abbauen. Darüber hinaus seien diagnostische Kompetenzen zur Anpassung des Unterrichts an die Lernausgangslage erforderlich und ermöglichen rechtzeitige Präventionsmaßnahmen bei lern- und entwicklungsgefährdeten Kindern.
Die Aufgaben der Lehrer, bei denen diagnostische Kompetenzen erforderlich sind, werden von Langfeldt (2006) auf drei unterschiedlichen Ebenen beschrieben: der individuellen Ebene, der Klassenebene und der institutionellen Ebene. Auf der individuellen Ebene muss die Lehrkraft vor allem in der Lage sein, die individuellen Lernvoraussetzungen einzelner Schüler zu beurteilen, um diese angemessen fördern und fordern zu können. Auf der Klassenebene gilt es, die individuellen Unterschiede der Schüler zu erkennen, um z. B. effizientes, kooperatives Lernen in Gruppen zu organisieren oder die Lehrmethoden dem Niveau der Klasse anzupassen. Auf der institutionellen Ebene ist die Fähigkeit gefordert, faire und möglichst objektive Zeugnisse und Leistungsberichte zu erstellen und möglichst fehlerfreie Bildungsempfehlungen zu erteilen. Hesse und Latzko (2009) stellen folgenden Katalog zu expliziten diagnostischen Anlässen für Lehrkräfte zusammen:
• Planen von Unterricht
• Feststellen von Lernvoraussetzungen der Schüler
• Leistungsüberprüfung vor der Einführung neuer Themen
• Analyse des eigenen Unterrichts
• Konstruktion und Bewertung von Klassenarbeiten und Tests
• Bestimmung des Ausgangsniveaus: bei jeder Fördermaßnahme, vor jeder Nachhilfe oder Nachhilfeempfehlung, bei Lernschwierigkeiten einzelner Schüler, bei wichtigen Schullaufbahnentscheidungen, bei Übertritt in die 5. Klasse, Überprüfung der eigenen Bewertung und Zensurengebung.
Als Aufgabenbereiche einer sonderpädagogischen Diagnostik nennt Trost (2008):
• Die Beantwortung institutioneller Fragestellungen, womit Fragen nach der Schullaufbahn, nach Ein- und Umschulung, nach Zuweisung auch im vor- und nachschulischen Bereich gemeint sind.
• Die Beurteilung der Entwicklung und des Verhaltens von Menschen mit Behinderung, um gegebene Problemlagen zu verstehen und entsprechende förderliche Perspektiven zu entwickeln.
• Erziehungs- und unterrichtsbegleitende Lernprozessdiagnostik, um die Auswirkungen des eigenen pädagogischen Handelns einschätzen zu können und
• die Förderplanung, wobei nicht das Erstellen von Plänen, sondern der Prozess des Planens im Vordergrund stehen sollte.
Kany und Schöler (2009) sehen ebenfalls vielfältige Fragestellungen und damit verbundene diagnostische Aufgaben für Grund- und Sonderschullehrkräfte: Ermittlung der Schulfähigkeit, Feststellung des (sonder-)pädagogischen Förderbedarfs, Empfehlungen am Ende der Grundschule für die Schulform in Sekundarstufe I und letztendlich die Ermittlung der Leistungen und Leistungsfortschritte für die Planung der nächsten methodisch-didaktischen Schritte im Unterricht und der weiteren individuellen Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten im Lernen und Verhalten.
Diese Aufzählungen machen hinlänglich deutlich, dass die Diagnosekompetenz als zentrale oder auch Kernkompetenz für erfolgreiches Unterrichten und pädagogisches Handeln zu betrachten ist. Nimmt man die derzeitige Debatte zur sonderpädagogischen Professionalität zur Kenntnis, so gehören laut Moser (2005) die diagnostischen Kompetenzen zu den zentralen Professionsmerkmalen. Im Zentrum steht in nahezu allen Kompetenzprofilen, so Moser (2005) weiter, die Diagnostik als Kern sonderpädagogischer Intervention, und dies gelte mittlerweile sowohl für schulische als auch für außerschulische Arbeitsfelder. Aufgrund der zunehmenden Heterogenität in der Grundschule durch Formen der flexiblen Eingangsstufe oder der Möglichkeiten der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung stellt Seitz (2007) für die Grundschullehrkräfte eine Erweiterung diagnostischer Aufgaben und Kompetenzen fest, die bisher nur im Bereich von Sonderschulen bedeutsam