Die Herrgottswiege. Max Geißler
denn jene Ahnen hatten erkannt, dass die helle Heimlichkeit dieses Grundes ihr Glück sei, und dass der Ertrag der grossen Wiese und des Waldstücks, das jeder nach Norden zu besass, hinreichend wäre zur Erhaltung eines zwar sehr bescheidenen Wohlstandes, aber auch einer immerwährenden Zufriedenheit.
Es konnten sich, nachdem dieser Vertrag gerichtsmässig fertiggestellt war, in der Herrgottswiege fortan nur im rückwärtigen Gemeindewalde Menschen ansiedeln, was hinwiederum fast unmöglich war, weil die Gemeinde des Kirchdorfes ihren Besitz nicht veräusserte.
So ist es geschehen, dass im Laufe von zweihundert Jahren nur wenige Häuser in der Herrgottswiege entstanden. Die dawaren, vererbten sich von den Eltern auf die Kinder, und nur aus einem waren die Menschen allgemach hinausgestorben. Zuletzt sass nur noch eine sehr alte Frau darin, und als sie fast hundert Jahre geworden war und ohne Hilfe nicht mehr sein konnte, kam eines Tages ein fremdes Paar in das Tal. Die beiden Leute handelten mit Bürsten, waren staubgrau und sonnverbrannt von langer Sommerfahrt, und namentlich die Frau hatte ein phantastisches Aussehen.
Sie boten ihre Waren auch in dem Hause der Greisin zum Kauf, das am Hange steht. Es ist ein sehr schöner und alter Nussbaum vor diesem Hause — wie denn die Herrgottswiege die einzige Stelle in jenem Gebirge ist, an der diese Bäume gedeihen.
In seinem Schatten sass die Greisin und redete mit den fahrenden Leuten. An diesem Tage wurde der Handel fertig: das Geld wurde zusammengebracht, die Bürstenbinder kauften das Haus und wurden sesshaft, die Alte blieb wie zuvor in ihrem Stübchen und starb im folgenden Herbst hinweg.
Danach vergingen einige Jahre.
In der Herrgottswiege hatte man sich mit der Gegenwart der Fremden abgefunden; sie gehörten zwar nicht zu denen, die „schon immer“ dagewesen waren, aber man legte ihnen auch nichts in den Weg. Da sie keine Kinder hatten und ein Handwerk, das in dieser Gegend weit und breit nicht betrieben wird, blieben sie der Gemeinschaft der anderen noch ferner; und es wäre vielleicht gar keine Verbindung zwischen ihnen zustande gekommen, wenn sie nicht beide die Geige in einer Weise gespielt hätten, die den Leuten aus der Herrgottswiege als das schönste und wildeste erschien, was man an Musik hören könne.
Den Mann nannten sie seit dem Tage seiner Ankunft den Bürstenbinder; die Frau jedoch, die Silpa hiess und eine Zigeunerin war, wurde wegen des fremden Klanges ihres Namens mit diesem gerufen. Wie sie sich sonst nannten, wussten die Leute kaum, die Kinder sicherlich nicht, und diese betrachteten Silpa immer mit einem heimlichen Schauer; denn sie dachten: eines Tages müsse durch sie etwas ganz Wunderbares, Unerhörtes geschehen, wie es ihnen von dem Leben und den Künsten der Zigeuner vorgeredet worden oder wie es aus den dämmerigen Quellen des Waldes in ihre Gedanken gekommen war.
Aber es geschah nichts. Und als sie auch die Weisen auf der Geige hundertmal vernommen hatten, wurde das Spiel — wenigstens für die Kinder — zu einem jener Dinge, die schon immer gewesen waren.
Eines aber sahen sie alle nicht, oder sie redeten nicht davon: das war die braune Schönheit des Zigeunerweibes, die unter dem Himmel der Pussta erblüht war. Silpas Haut und die schlanken Linien ihres Leibes waren wie aus gegossenem Erz.
Manchmal sang sie Lieder in jener fremden Sprache die man in ihrer Heimat redete; dann fürchteten sich die Kinder beinahe; und wenn sie Silpa und ihren Mann in den Wald gehen sahen, waren sie froh, dass sie nicht auch zu dieser Zeit gegangen waren. — Übrigens waren die Fremden vom Frühling bis in den Herbst nur für Tage in dem Nussbaumhause; denn während des Winters stellten sie eine grosse Menge Bürsten her, die sie auf ihren Rücken in der schönen Jahreszeit ins Land trugen und verkauften.
Bei alledem blieben sie jedoch ärmer als die anderen in der Herrgottswiege, und weil sie sich ihr Lebtag anders gewöhnt hatten, fand sich auch die Zufriedenheit nicht zu ihnen; denn sie vermochten ihre Herzen nicht auf das heitere Gleichmass vernünftigen Wünschens zu stimmen. Manchmal meinte der Mann, ihre Kunst sollte ihnen helfen, und sie wollten daraus Geld schlagen. Dann höhnte ihn Silpa und sagte: nun sie von dem Binden steife Finger und von ihrer Ehe ein freudloses Herz bekommen habe, fiele ihm das ein — bürstenbinden und geigen vertrüge sich nicht miteinander. Sie hatte auch aus den Linien der Hand und aus anderen Zeichen das Wahrsagen gelernt, das ihr zuvor manch schönes Stück Geld eingebracht ...
In Wahrheit hätten sie trotz all dieser Dinge sich doch zu einander gefunden, wenn die braune Silpa nicht in der Tiefe ihres Herzens ein Geheimnis getragen hätte, das sie, je länger je mehr, von ihrem Manne trennte. Als dieser sie kennen lernte und sie fragte, ob sie sein Weib werden wolle, verschwieg sie ihm nämlich, dass sie schon eines Mannes Weib gewesen sei und dass sie jenem ein Knäblein geboren habe; sie verschwieg auch, dass sie ihm davongelaufen sei, um mit dem Trupp fahrender Leute ihrem Triebe zum Wandern nachzugehen.
An dieser Lüge zerschellte zuletzt ihr Leben.
Um jene Zeit aber regten sich in ihrer Seele die Gespenster der Reue; es wuchs darüber die Sehnsucht nach Kind und Heimat, und es war niemand, dem sie sich hätte offenbaren können.
So rückte ihr der Mann, mit dem sie das Leben teilte, fern und ferner. Nachts stöhnte sie im Schlafe, oder sie weinte in ihre Träume, wenn sie die Stimme des Knaben Vilmos rufen hörte, der nun zwölf Jahre geworden war und vielleicht draussen auf der Pussta lag, ein verwaister Hirte, der sich den Trunk aus dem Euter der Ziegen sog und mit seinen weissen Zähnen eine harte Rinde Brotes zermalmte, und der geschlagen wurde von der Geissel eines alten Zigeunerweibes, weil ihn seine Mutter in die fremde Armut geworfen, als er ihr lästig war. Oder er hatte eine andere Mutter, die ihn hasste ...
Es waren wilde, schwere Gedanken, die Silpa am Herzen frassen; aber sie musste schweigen; denn sie fürchtete sich vor ihrer Lüge. Der Mann ärgerte sich an ihr, und sie ward verstockter ...
Und doch ward viele viele Jahre nach her der Schleier von ihrem Leben gezogen — da war sie schon gestorben in einer Hirtenhütte der Pussta; denn es fiel dem Vroneli im Haus am Brunnen die Geschichte dieses Lebens an einem Frühlingstag in die Hände, zu einer Zeit, in der das Bild der schönen braunen Silpa beinahe ausgelöscht war in dem Gedächtnisse der Leute des Tales. —
Damals erwogen Silpa und ihr Mann in ihrer Armut noch dies und jenes, fanden sich aber nicht recht ins Leben, und vielleicht wären sie voneinandergelaufen, wenn sich nicht eines Tages etwas zugetragen hätte, das das Merkwürdigste ist, was in der Herrgottswiege bis dahin geschehen war.
Es rollte nämlich an einem Sommerabend einer jener grünen Wagen auf dem Wiesenwege ins Tal, wie sie fahrenden Leuten als Wohnung dienen. Er war mit zwei stattlichen Braunen bespannt, ein kleiner Schornstein ragte aus seinem Dach, an den sechs Fenstern waren weisse Vorhänge, und das ganze wandelnde Häuslein sah so blank und freundlich aus, dass die Leute zusammenliefen und die Kinder meinten: darin zu wohnen, wäre die grösste Lust des Lebens.
Vorn auf dem Wagen sass ein Mann, der mochte wenig über dreissig Jahr alt sein; er hatte einen breiten grauen Hut auf dem Kopf und sehr helle Augen unter der Stirn. Diese Augen waren von einem so rätselvollen und tiefen Glanze, wie er sonst nur in Kinderaugen ist, die noch warten, dass irgendwo ein Märchen Wahrheit werde.
Alle Blicke suchten an ihm herum — es war kein Landfahrer, der in seinem Wagen Dinge verborgen hatte, wie man sie auf den Märkten sehen kann; denn er trug städtische Kleidung und hatte ein feines Gesicht, und wenn er sprach, klang es für die Ohren der Leute, als lese er aus einem Buche vor.
Er fragte, ob er seine Pferde in einem Stall unterbringen könne, er werde bezahlen, was man für den Dienst und das Futter verlange.
Und was sich darauf ereignete, war wiederum sehr merkwürdig: weil in zwei Ställen nur je ein Stand frei war und die Pferde neben den Kühen leicht unruhig werden konnten, wurden die zwei Kühe aus dem Stall im Haus am Brunnen in die freien Stände der Nachbarn geführt, und der Fremde wurde eingeladen, er möge nun die Pferde getrost einstellen. — Ein Bett und was sonst für die Nacht nötig wäre, auch Essen und Trinken brauche er nicht, sagte er; denn er führe alles in dem grünen Wagen mit.
Jedes Wort, das er sprach, spannte die Neugier in den Menschen, und zuletzt war sie wie ein Bogen, mit dem einer einen Pfeil in die Decke des Himmels schiessen will.
Als die