Der weisse Schmetterling. Walter Mosley
gab der verdrossenen Frau meine Tochter zurück. Als sie Edna in den Armen hielt, wurde Gabby fröhlicher. Die Kleine war so schön, dass sie eine Steinstatue zum Lächeln bringen konnte.
Als sie gingen, klingelte das Telefon. Es klingelte eine volle Minute lang, ehe der Anrufer auflegte. Danach nahm ich den Hörer von der Gabel.
Ich zog ein Exemplar von Platos Werken aus dem Regal und las im Sonnenlicht, das durch mein Wohnzimmerfenster hereinschien, den Phaidon. Meine Augen wurden feucht, als Sokrates auf der Steinbank starb. Ich fragte mich, wie es wäre, ein Weißer zu sein; ein Mann, der das Gefühl hatte dazuzugehören. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, mein Leben hinzugeben, weil ich mein Heimatland so sehr liebte. Nicht der Heldentod in der Hitze der Schlacht, sondern der Tod eines Verbrechers.
Siebenundvierzig Minuten nach elf parkte eine lange schwarze Limousine vor meinem Haus. Vier Männer stiegen aus. Drei waren Weiße in Straßenanzügen verschiedener Farbschattierungen. Der vierte war Quinten Naylor. Sie stiegen allesamt aus und sahen sich in der Gegend um. Es schüchterte sie nicht ein, dass sie mitten in Watts waren. Dadurch wusste ich, dass sie allesamt Cops waren.
Quinten führte die Prozession zu meiner Tür. Sie waren alle groß. Der Typ Weißer, der Erfolg hat, weil er seinesgleichen überragt. Fast jeder Chef, den ich je gehabt hatte, war ein Weißer gewesen, und entweder war er groß oder fett gewesen; Einschüchterung war in einem solchen Job die erste Voraussetzung für Gehorsam.
Ich stand an der Tür, hinter der verriegelten Fliegentür, als sie auf die Veranda kamen.
»Guten Morgen, Easy«, sagte Naylor. Er lächelte nicht. »Wir haben versucht anzurufen. Ich hab ein paar Männer mitgebracht, die mit Ihnen über die Neuigkeiten reden wollen.«
»Ich muss in einer Dreiviertelstunde wo sein«, sagte ich und rührte mich keinen Zentimeter von der Stelle.
»Machen Sie auf, Rawlins.« Das kam von einem schmallippigen, levantinisch aussehenden Mann in einem silbrigen Anzug ohne Weste. Mir war, als ob ich ihn kannte, aber die meisten Cops verschmolzen für mich nach einer Weile zu einer einzigen brutalen Faust.
»Ham Se was Schriftliches für mich zum Lesen dabei?«, fragte ich, nicht unhöflich.
»Das ist Captain Violette, Easy«, sagte Quinten. »Captain in unserem Revier.«
»Oh«, heuchelte ich Überraschung. »Und die anderen Kraftmeier hier?«
Violette war so groß wie ich, um die eins fünfundachtzig. Der Mann neben ihm, hinter Naylor, trug einen fadenscheinigen babyblauen Anzug. Er war ein paar Zentimeter kleiner und sah ungehobelt aus. Sein teigiges weißes Gesicht war fleischig, seine Ohren waren riesig. Überall entsprossen ihm schwarze Haare. An den Augenbrauen, aus den Ohren. Er schob seine Hand an Naylor vorbei an meine Tür. Auch die Hand war plump und haarig.
»Hallo, Mr. Rawlins. Ich heiße Horace Voss. Ich bin der Verbindungsmann zwischen dem Büro des Bürgermeisters und der Polizei.« Ich begriff, dass ich die Typen nicht wegschicken konnte, deshalb öffnete ich das Fliegengitter und schüttelte Mr. Voss die Hand.
»Schön, kommen Se rein, wenn Se wolln, aber ich bin noch nich mal angezogen und muss bald weg.«
Mit fünf kräftigen Männern wirkte mein Wohnzimmer wie eine kleine öffentliche Bedürfnisanstalt. Aber ich besorgte allen einen Sitzplatz. Ich lehnte mich gegen die Fernsehtruhe.
Der Mann, der sich noch nicht vorgestellt hatte, war der größte. Er trug einen gelbbraunen Sears-Anzug, waschbar und bügelfrei. Mein Onkel Ogden Willy hatte vor dreißig Jahren in den Sümpfen von Louisiana genauso einen besessen. Er war mager und knochig, mit langen spitzen Fingern und tiefliegenden grünen Augen. Er trug keinen Hut und war fast kahl, nur ein bisschen schwarzes Haar um die Ohren herum.
Er schlug entspannt die Beine übereinander und lächelte. Er erinnerte mich an einen Teufel aus Porzellan, der damals in den Kuriositätenläden von Chinatown beliebt war. »Ich heiße Bergman, Mr. Rawlins. Ich arbeite für den Bundesstaat – für den Gouverneur. Ich bin nicht in offizieller Eigenschaft hier. Ich behalte nur diese schrecklichen Ereignisse im Auge.«
»Will jemand was trinken?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Violette für alle. Aber ich glaube, Mr. Voss hätte die plumpen Finger ganz gern um ein Glas gelegt.
»Wir sind hier …«, fing Quinten Naylor an, aber sein Vorgesetzter Violette schnitt ihm das Wort ab.
»Wir sind hier, um rauszukriegen, wer diese Frauen ermordet«, sagte Violette. Er presste beim Sprechen die Oberlippe fest gegen die Zähne. »Wir wollen nicht, dass dieser Irre auf unseren Straßen herumläuft.«
»Was für ein Scheißdreck«, sagte ich. »Tschuldigung, aber wenn ich mir das anhören muss, brauch ich ein Bier.«
Ich ging in die Küche. Als Selbstständiger musste ich nicht befürchten, dass diese Staatsdiener mich hinauswarfen. Ich brauchte auch nicht zu befürchten, dass sie mich verprügelten. Dazu waren sie zu wichtig. Natürlich hätten sie später ein paar Schläger schicken können. Vielleicht hätte ich etwas ehrerbietiger sein sollen. Aber diese Männer, die in mein Haus gekommen waren, regten mich auf.
Ich füllte mein größtes Glas mit Bier und ging ins Wohnzimmer zurück. Voss sah die Schaumkrone an und konnte sich nur mit Mühe daran hindern, sich die Lippen zu lecken.
»Was zum Teufel soll das, Rawlins?«, brüllte Violette.
»Mann, ich bin bei mir zu Hause, stimmt’s? Hab Sie nich eingeladen. Sie kommen rein, drängeln sich in mein Wohnzimmer, reden mit mir, als ob Se nen Trumpf in der Tasche hätten« – ich wurde hitzig –, »und dann jaulen Se rum über ne tote Frau, und ich weiß, dass vorher schon drei gestorben sind, und Se ham keinen Furz darauf gegeben! Weil das Schwarze waren, und die hier is weiß!« Wenn ich im Fernsehen gewesen wäre, hätte sich jede farbige Frau und jeder farbige Mann in Amerika von den Stühlen erhoben und mir zugejubelt.
Violette war aufgestanden, aber nicht, um zu applaudieren. Sein Gesicht war knallrot angelaufen. Da erinnerte ich mich an ihn. Er war noch Detective gewesen, als er Alvin Lewis aus seinem Haus am Sutter Place gezerrt hatte. Alvin hatte in einer Gasse vor einer Bar in der Gegend eine Frau geschlagen, und Violette hatte den Anruf entgegengenommen. Die Frau, Lola Jones, weigerte sich, Anzeige zu erstatten, und Violette beschloss, selbst ein bisschen Gerechtigkeit zu spielen. Ich erinnerte mich daran, wie rot sein Gesicht wurde, während er Alvin mit einem Polizeischlagstock verprügelte. Ich erinnerte mich daran, wie feige ich mir vorkam, während drei weitere weiße Polizisten herumstanden, die Hände an den Pistolen und mit grimmiger Befriedigung im Gesicht. Es war nicht die Befriedigung darüber, dass ein Böser für sein Verbrechen bezahlte; diese Männer geilten sich daran auf, dass sie solche Macht hatten. Ein Nazi hätte es nicht besser machen können.
»Beruhigen Sie sich, Anthony«, befahl der Zuschauer Bergman. »Mr. Rawlins, es tut uns leid, dass wir Ihren Tagesablauf durcheinanderbringen, aber es ist ein Notfall. Ein Mann bringt Frauen um, und wir müssen etwas unternehmen. Das mit den anderen ermordeten Frauen habe ich bis heute nicht gewusst, aber ich verspreche Ihnen, dass wir uns darum kümmern. Trotzdem, ganz gleich, aus welcher Perspektive Sie es sehen, wir müssen unsere Arbeit machen.«
»Die Polizei muss ihre Arbeit machen. Ich bin bloß ein Bürger, ein Zivilist. Ich muss gar nix machen, außer bei Grün über die Straße gehn.«
Mr. Bergman regte sich vermutlich nie über irgendetwas auf. Er lächelte nur und nickte. »Selbstverständlich, das stimmt. Es ist Anthonys Aufgabe, diesen Mann der Gerechtigkeit zuzuführen. Aber Sie wissen, dass er Hilfe brauchen könnte, nicht wahr, Mr. Rawlins?«
»Ich kann ihm nich helfen. Ich bin nich die Polizei.«
»Doch, Sie können. Sie kennen alle möglichen Leute in der Gemeinde. Sie können dorthin, wo die Polizei nicht hinkann. Sie können Leuten, die nicht mit den Gesetzeshütern reden wollen, Fragen stellen. Wir brauchen in dem Fall jede Hilfe, die wir bekommen können, Mr. Rawlins.« Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich ergriff sie nicht.
»Ich steck mitten in meinem