Deutscher Herbst 2015. Alexander Meschnig

Deutscher Herbst 2015 - Alexander Meschnig


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handelt. Eine geradezu groteske Realitätsverweigerung und eine mentale Disposition, die im »Fremden« quasi den Erlöser von historischen Sünden und Verbrechen wie Kolonialismus oder Faschismus sieht, spielen sicher eine wichtige Rolle. Daneben sind es aber Opportunismus, Feigheit und eine fast grenzenlose Naivität, die von Beginn an einen unverstellten Blick auf die Folgen der Grenzöffnung verhinderten.

      Drei Jahre später werden die Konsequenzen aus der massenhaften Einwanderung tribalistischer, gewaltaffiner, patriarchaler und antisemitischer Gemeinschaften mit ihren mitgebrachten kulturellen Mustern immer sichtbarer. Damit erweitern sich auch die Grenzen des Sagbaren langsam, aber stetig. Fast alle Vertreter der »Willkommenskultur« wollen heute nicht mehr an ihre euphorischen Prognosen im Herbst 2015 erinnert werden. Es ist zu vermuten, dass sie den einst Verfemten irgendwann ohne Scham erklären werden, doch auch alles immer schon kritisch gesehen zu haben. Am Ende wird wieder niemand dabei gewesen sein; man war ja selbst nur das Opfer seiner Gutgläubigkeit und Menschenliebe geworden. Niemand konnte vorhersehen, was kommen wird. Erinnern wir uns daran, dass das Narrativ der »kulturellen Bereicherung« durch die Hereinströmenden und die Hoffnung auf einen ökonomischen Aufschwung durch überwiegend gering Qualifizierte oder Analphabeten aus Ländern ohne eine etablierte Arbeitsund Leistungskultur ein dominantes Muster bildete. Daimler-Chef Zetsche versprach sich durch Flüchtlinge ein »neues Wirtschaftswunder«, der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz fand die Masseneinwanderung »wertvoller als Gold«, die unvermeidliche Katrin Göring-Eckardt sprach von einem »Geschenk für Deutschland«, und ihr Parteikollege Anton Hofreiter sah im August 2015 »das Ganze als Chance (…), dass nämlich viele Menschen, insbesondere auch gutausgebildete Menschen, ihre Zukunft in Deutschland sehen.« Da durfte auch Lukas Köhler, Landesvorsitzender von Junge Liberale Bayern, im Juli 2015 nicht zurückbleiben: »Liebe Flüchtlinge, es ist gut, dass ihr hier seid, weil wir zusammen in Bayern glücklich werden können und ihr unsere Gesellschaft bereichert.«

      Neben diesen heute nur noch wie aus einer längst vergangenen Zeit klingenden Stimmen wurden aber bereits mögliche Veränderungen für »die hier schon länger Lebenden« früh und deutlich ausgesprochen und in der Regel gutgeheißen. Beispielhaft hier nur der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck im September 2015: »So wie die Flüchtlinge ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, werden auch wir es tun müssen. (…) Unser Wohlstand und die Weise, in Frieden zu leben, werden sich ändern.« Fast zeitgleich machte der Präsident des Regierungsbezirks Kassel, Walter Lübcke (CDU), im Oktober desselben Jahres Bürgern, die gegen die Unterbringung von Asylbewerbern protestierten, klar: »Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen – das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.«

      Für nüchterne Analytiker der Folgen der Grenzenlosigkeit des deutschen (Sozial-)Staates klangen Äußerungen wie die oben zitierten von Beginn an wie unfreiwillige Satire; zugleich hatten und haben sie aber weitreichende politische Folgen. Wenn der amtierende Justizminister Heiko Maas in einer öffentlich-rechtlichen Sendung klarstellte: »Es gibt keine Verbindung, keine einzige nachweisbare Verbindung zwischen dem Terrorismus und den Flüchtlingen«, und das zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Geheimdienst bereits auf den Zusammenhang von unkontrollierter Masseneinwanderung und terroristischen Attentätern aufmerksam machte, dann kann man von einer bewussten Irreführung der Bevölkerung sprechen. »Die Mär vom eingeschlichenen Terroristen« betitelte auch die regierungstreue Süddeutsche Zeitung einen Beitrag vom 14. Oktober 2015. Spätestens nach den Anschlägen von Paris mit 170 Toten, bei denen einige der Täter mit gefälschten syrischen Pässen über Griechenland in die EU einreisten, hat die Wirklichkeit alle diese Aussagen ad absurdum geführt.

      Für jeden praktisch denkenden Menschen sind offensichtliche Zusammenhänge, etwa die zwischen steigender Kriminalität und einer ungeregelten Zuwanderung aus korrupten und gewalttätigen Gesellschaften, evident. Sie wurden und werden aber weiterhin geleugnet, wenngleich immer mehr Einsprengsel der Wirklichkeit den Weg in die (alternativen) Medien finden. Die Verkünder der Vorzüge von Weltoffenheit und Multikulturalismus werden zunehmend mit den Folgen ihrer humanitaristischen Ideologie konfrontiert. Da die Bereitschaft, die eigene Position in Frage zu stellen, nicht vorhanden und ein fundamentaler Fehler nicht einzugestehen ist, muss gegen jede Vernunft und Realität weiter relativiert und verharmlost werden. Die erzieherische Komponente gegenüber den Uneinsichtigen stand und steht dabei im Mittelpunkt, obwohl das heute letztlich nur noch Rückzugsgefechte sind. Bekanntlich sind letztere aber von besonderer Heftigkeit. Ein großer Teil des deutschen Journalismus hat seit dem September 2015 in der Pädagogisierung ihrer Leser, die allesamt auf eine »bunte Gesellschaft«, auf Weltoffenheit und Toleranz, verpflichtet werden sollten, ihre Bestimmung gefunden. Über die künftigen Aufgaben des Journalisten, genauer eigentlich: des politischen Aktivisten, war im Berliner Tagesspiegel zu lesen:

      »Das Projekt Aufklärung müsste also auf der anderen Seite im deutschen (europäischen) Inneren an tiefsitzenden soziokulturellen Einstellungen rühren und wäre als politische Bildungsaufgabe der von Amerikanern und Briten nach 1945 in Westdeutschland betriebenen ›Reeducation‹ vergleichbar.«

      Der massive Rückgang der Leserschaft der meisten großen Printmedien hat meines Erachtens nicht nur mit den Angeboten des Internet zu tun. Statt Information und politischen Journalismus bekommt man heute häufig pädagogische und moralische Rührstücke serviert, die das Politische auf ethische Fragen und individuelle Haltungen reduziert. Schert jemand – selten genug – aus dem erlaubten Diskurs aus, sind Entschuldigungstiraden oder maßlose Vorwürfe an der Tagesordnung.

      In einigen der nachfolgenden Essays steht die Analyse einer »zweiten Reeducation«, diesmal im Namen der vielzitierten Buntheit und Toleranz, im Mittelpunkt. Insgesamt wird der Versuch gemacht, die deutsche Gegenwart auf historische, psychologische und mentale Muster zu untersuchen, die für eine Erklärung der aktuell ablaufenden Prozesse unabdingbar sind. Ich habe dabei keine meiner Prognosen im Nachhinein verändert, damit die innere Dynamik der letzten Jahre anhand der Entwicklung der Themen an meinen eigenen Reflexionen und Überlegungen deutlich wird. Jeder Text steht für den Versuch, auf den ersten Blick scheinbar Unerklärliches und Paradoxes in einen Interpretationsrahmen zu stellen, der den Sommer 2015 nur als die Zuspitzung und Verdichtung einer Dynamik betrachtet, die in Deutschland lange vor der Grenzöffnung begann. Natürlich ist Geschichte immer auch kontingent, von Zufällen und Sprüngen, von überraschenden Momenten und Wendungen gekennzeichnet. Dennoch gibt es Entwicklungen in Deutschland, die eine Kontinuität besitzen, wenngleich die aktuellen Verhältnisse vor ein paar Jahren von den meisten wahrscheinlich für vollkommen unmöglich gehalten worden wären.

      Praktisch jedes Themenfeld wurde in diesem Land seit Jahren von unzähligen Tabus und Sprechverboten begleitet: Integration, Bildung, Asyl, Umwelt, Geschlechterverhältnisse, Kindererziehung, Kriminalität, Klimawandel, Gentechnik. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Im Idealfall hat jeder die »richtige Meinung« dazu, ja in allen diesen Fällen kann es im Prinzip nur eine richtige Meinung geben; alle anderen sind, am besten bei Strafe des gesellschaftlichen Ausschlusses, zu verbieten oder – die Macht dazu hat man noch nicht – unter Strafe zu stellen. Zumindest müssen die Protagonisten von »Fehlmeinungen« in die rechte, rassistische, populistische, neoliberale oder unmoralische Ecke gestellt werden. Man kann einfach nicht für Atomkraft und Gentechnik oder gegen eine weitere Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern sein; das ist entweder krank (islamophob), oder es grenzt schon an ein Hassverbrechen. Die Meinung, es lebten zu viele nicht integrierbare Gruppen in Deutschland oder man fühle sich zunehmend fremd in seinem eigenen Land, darf ein aufrechter Demokrat nicht haben, und es muss ihr deshalb vehement mit moralischer Entrüstung und gesellschaftlicher Ächtung begegnet werden. Eine nüchterne Betrachtung der Realitäten und unmittelbaren Folgen der ungesteuerten Zuwanderung, die quer zu den moralischen Erwartungen liegt, fällt selbst schon unter das Verdikt von »Hate Speech«. Ein sachlicher und distanzierter Blick, etwa auf die horrenden Kosten der »Flüchtlingskrise«, gilt per se als menschenverachtend, da allein auf den ökonomischen Nutzen gerichtet, und trifft auf vehementen Widerstand desjenigen Teils der Öffentlichkeit, der medial den moralischen Raum vorgibt, innerhalb dessen man in Deutschland denken darf. Der Soziologe Max Weber hat 1895 in seiner akademischen Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik den Typus des von ihm so genannten Gesinnungsethikers schon sehr früh präzise beschrieben:


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