Deutscher Herbst 2015. Alexander Meschnig

Deutscher Herbst 2015 - Alexander Meschnig


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– wenn mir der Ausdruck verziehen wird – Wald- und Wiesen-Sozialpolitiker, und ebenso jene menschlich liebenswürdige und achtungswerte, dennoch aber unsäglich spießbürgerliche Erweichung des Gemütes, welche politische Ideale durch ›ethische‹ ersetzen zu können meint und diese wieder harmlos mit optimistischen Glückshoffnungen identifiziert.«

      Längst ist der sogenannte Mainstream – nicht nur in Politik und Medien, auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in Kirchen, Stiftungen und Verbänden – ein »politkorrektes Links« geworden, das im Verdrängen und Verleugnen gesellschaftlicher Realitäten seine Bestimmung gefunden hat und sich nur noch um die richtige Gesinnung dreht. Alle gesellschaftlichen Tabus, so der Medienwissenschaftler Norbert Bolz, sind heute linke Tabus: Ausländerkriminalität, muslimischer Antisemitismus, Jugendgewalt etc. Der moralisch Überlegene kann sich stets sicher sein, dass er den Argumenten der Gegenseite kaum etwas entgegensetzen muss; in allen öffentlichen Talkshows ist er auch in ausreichender Überzahl vertreten. In den meisten Fällen kennen die »edlen Seelen« (Siegfried Kohlhammer) auch niemanden mit einer anderen Meinung und wollen diese auch nicht hören. Mit »Rechten« sollte man am besten nicht reden, es könnte ja sein, dass man selbst keine Argumente hat.

      Viele der Entwicklungen der letzten Jahre deuten darauf hin, dass eine in Deutschland selbstverordnete Haltung nicht mehr bereit ist, das Eigene zu verteidigen, da es gar keinen Begriff mehr davon gibt oder er ins Lächerliche gezogen wird. Exemplarisch dafür etwa Aydan Özoguz im Tagesspiegel vom Mai 2017: »Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.« Jedes nationale oder eigene Interesse, jede Tradition, alles Gewachsene, Errungene, gilt in den Augen der moralischen Universalisten per se als egoistisch, rassistisch, völkisch oder zumindest als unstatthaft. Dabei kann inzwischen jeden, der von den vorgegebenen Sprach- und Denkmustern abweicht, der Vorwurf des Rassisten oder Nazis treffen. Das geht soweit, dass freiwillige Mitarbeiter einer Hilfsorganisation wie der Essener Tafel, die ehrenamtlich Notleidenden hilft, sich von Linksextremen als Nazis beschimpfen lassen müssen. Dass die Essener Tafel zeitgleich von einer Migrantenpartei (ADD), die den autoritären türkischen Präsidenten Erdogan auf ihren Wahlplakaten in Deutschland feiert, eine Anzeige wegen Rassismus erhält, zeigt nur, dass Absurditäten in diesem Land Konjunktur haben. Nichts, was früher undenkbar war, ist heute unmöglich. Es gibt deshalb auch keine Satire mehr in Deutschland. Die tägliche Realität lässt sich nicht mehr persiflieren.

      Die letzten Jahre haben nicht nur bei mir immer wieder das Gefühl ausgelöst: Im Prinzip ist bereits alles gesagt, alles liegt klar zutage, und dennoch steuern wir immer mehr auf einen Punkt zu, von dem an es keine Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem September 2015 gibt. Natürlich ist mir, wie wahrscheinlich den meisten Lesern, klar, dass es niemals ein Zurück in der Weise geben kann, dass stattgefundene Entwicklungen rückgängig gemacht werden können. In verschiedenen Essays habe ich versucht, »die Dinge an ihr Ende zu denken«, um auf die eklatanten Widersprüche der offiziellen Politik aufmerksam zu machen, die irreversible Fakten schafft. So kann etwa kein demokratischer Staat Massenabschiebungen in der Größenordnung von einigen hunderttausend Menschen durchführen. Es können auch keine schwer bewachten Transporte »Schutzsuchende« in andere europäische Länder verbringen (Stichwort: Quote), selbst den – nicht vorhandenen – Willen dieser Staaten vorausgesetzt. All das können nur totalitäre Systeme umsetzen; für eine Demokratie bleibt das unmöglich. Aber was folgt daraus? Wir, oder besser: die politische und mediale Elite, haben uns in eine Lage gebracht, aus der es mit normalen rechtsstaatlichen Mitteln keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

      Dabei geht es in der Polarisierung der Positionen schon lange nicht mehr um den alten Gegensatz von rechts oder links, der nur noch eine folkloristische Note ist oder aus Denkfaulheit und Dummheit beibehalten wird, sondern um die Frage, ob wir bereit sind, die Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaft mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verteidigen. Dabei steht die eigene Selbstbehauptung, jenseits politischer Lager, im Mittelpunkt.1 Ihr steht aber eine Phalanx moralischer Universalisten in Politik, Medien, Universitäten, Künsten etc. entgegen, die in der Abschaffung jeglicher nationaler oder kultureller Besonderheiten ihre gesellschaftliche Vision gefunden hat. Die Grenzöffnung im September 2015 war so nur der konsequente Schritt einer allgemeinen Entgrenzung, in der alles Vertraute, Geschaffene und Gesicherte zugunsten einer fluiden, hybriden, supranationalen Struktur verschwinden soll. Der Widerstand dagegen wird aber in dem Maße zunehmen, wie die Kräfte des Partikularen eigene Interessen durchsetzen und Werte bewahren wollen, auch wenn sie in den Augen des Juste milieu als reaktionär, altmodisch oder rassistisch gelten.

      Es gibt aber, so ebenfalls ein übergreifendes Thema der folgenden Essays, letztlich einen Verbündeten, der Hoffnung gibt: Die Wirklichkeit. Schon heute lassen sich bestimmte Entwicklungen und Folgen der grenzenlosen Einwanderung nicht mehr vollständig verleugnen. Über alternative Medien und Portale gelangen, trotz des verabschiedeten »Netzwerkdurchsetzungsgesetzes«, mehr und mehr Informationen an die Öffentlichkeit, auf die die Hauptmedien reagieren müssen und die sie nicht länger verschweigen können. Die konkreten Erfahrungen von Polizisten, Lehrerinnen, Flüchtlingshelfern, Ärzten, Krankenschwestern, die Erlebnisse ganz normaler Menschen, die in sozialen Brennpunkten leben (müssen), können auf Dauer nicht totgeschwiegen werden. Man darf bereits heute Wetten darauf abschließen, dass viele der einstmals verfemten Positionen der Regierungskritiker früher oder später übernommen werden, wenn der Druck der Verhältnisse zu stark wird. Der Kulminationspunkt ist wahrscheinlich schon jetzt überschritten, mit einem Kippen der Stimmung kann schnell und jederzeit – etwa durch ein einzelnes, unvorhersehbares Ereignis – gerechnet werden. Eine Prognose über das Wann ist unmöglich, aber der Protest gegen die »Merkelisierung der Politik« (Rolf Peter Sieferle) wird stärker werden, je mehr Menschen von den Folgen der Masseneinwanderung betroffen sind und je wirkungsloser die »Rassismus- und Nazikarte« allein durch ihre ubiquitäre Anwendung auf buchstäblich alle Kritiker der Willkommenskultur wird. Viele werden, auch das keine gewagte Prognose, bei einer allgemeinen Änderung der Stimmung sofort in das bis dorthin verachtete Lager überwechseln; bei manchen Journalisten und Politikern hat man dieses Gefühl schon heute. Die Wirklichkeit und die von ihr produzierten Folgen lassen sich, das mag ein Trost sein, auf Dauer nicht leugnen. Das »Postfaktische«, so die Grundthese in einem meiner Essays, hat aber die Eigenschaft, die eigenen Widersprüche als besondere Qualität zu verkaufen. So könnte es angesichts der ökonomischen und administrativen Stärke Deutschlands lange dauern, bis sich die Konsequenzen der gegenwärtigen Politik in aller Schärfe zeigen – in der historischen Betrachtung, siehe etwa die realsozialistischen Länder, vielleicht bis zu einer massiven wirtschaftlichen Krise und dem sukzessiven Zusammenbruch des Sozialstaates.

      Es bleibt am Ende die Frage, ob die bereits angestoßenen Entwicklungen noch eine Umkehr ermöglichen. Deutschland hat sich, wie die meisten westeuropäischen Staaten, in eine Lage gebracht, in der alle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte fundamental in Frage gestellt sind. Wir müssen endlich anfangen darüber nachzudenken, was das für unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft bedeutet. Dafür braucht es aber zuallererst eine ungeschminkte Analyse und Darstellung der Gegenwart, die sich an der Wirklichkeit, also an dem, was ist, und nicht an dem, was sein soll, orientiert. Die nachfolgenden Essays wollen dazu einen Beitrag leisten.

      Am 24. August 1945, zwei Tage vor seinem Tod, beendete der österreichisch-jüdische Schriftsteller Franz Werfel seinen utopischen Roman Stern der Ungeborenen. Vor den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil geflohen, sah er die Zukunft Deutschlands nach Kriegsende in prophetischer Weise vorher. Seine Worte mögen uns heute als Menetekel gelten:

      »Zwischen Weltkrieg II und Weltkrieg III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel. Sie fanden diesen Weg sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenwahn. (…) So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit. Und die Gebildeten unter ihnen hielten Vorträge an Volkshochschulen und in protestantischen Kirchen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war.«

      Februar/März 2018

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