Der letzte Mensch. Mary Shelley
wurde, mit einem Namen, der schändlich geworden war, und mit einer auf ihrer Seele lastenden Schuld. Aber wenngleich sie wie unsichtbar vor ihm verborgen war, erlaubte sein öffentliches Amt ihr, von allen seinen Handlungen, seinem täglichen Lebensablauf, sogar seinem Gespräch zu erfahren. Sie erlaubte sich einen Luxus, sie las jeden Tag die Zeitungen und genoss das Lob und die Taten des Protektors. Nicht, dass dieser Genuss keine Trauer mit sich gebracht hätte. Perditas Name war für immer mit dem seinen verbunden; ihre eheliche Glückseligkeit wurde sogar durch das authentische Zeugnis von Tatsachen belegt. Sie waren beständig zusammen, noch konnte die unglückliche Evadne das Wort lesen, das seinen Namen bezeichnete, ohne gleichzeitig das Bild von ihr zu zeigen, die die treue Begleiterin all seiner Mühen und Freuden war. Sie, ihre Exzellenzen, begegneten ihren Augen in jeder Zeile und mischten einen üblen Trank, der ihr Blut vergiftete.
In der Zeitung sah sie die Ausschreibung für den Entwurf einer Nationalgalerie. Indem sie ihre Erinnerung an die Gebäude, die sie im Osten gesehen hatte, mit Geschmack mischte und mit Klugheit ein Gebäude von einheitlichem Aussehen entwarf, verfertigte sie den Plan, der dem Protektor gesandt worden war. Sie genoss die Vorstellung, unbekannt und vergessen wie sie war, ihm, den sie liebte, eine Wohltat zu schenken; und freute sich mit verzücktem Stolz auf die Vollendung eines ihrer Werke, das, in Stein verewigt, mit dem Namen Raymonds verbunden der Nachwelt zufallen würde. Sie erwartete mit Eifer die Rückkehr ihres Boten vom Palast; sie hörte seinem Bericht über jedes Wort, jeden Blick des Schutzherrn nur zu gerne zu; sie zog Glückseligkeit aus dieser Verständigung mit ihrem Geliebten, obgleich er nicht wusste, an wen er seine Anweisungen richtete. Die Zeichnung selbst wurde ihr unaussprechlich teuer. Er hatte sie gesehen und gelobt; sie wurde wieder von ihr berichtigt, jeder Strich ihres Bleistifts war wie ein Akkord erregender Musik und ließ sie an einen Tempel denken, der eigens erbaut wurde, um die tiefsten und unaussprechlichsten Gefühle ihrer Seele zu feiern. Diese Betrachtungen beschäftigten sie, als die Stimme Raymonds ihr erstmals ans Ohr drang, eine Stimme, die sie, einmal gehört, nie wieder vergessen konnte. Sie zügelte ihre Gefühle und hieß ihn mit ruhiger Sanftheit willkommen.
In ihr kämpften Stolz und Zärtlichkeit miteinander, und schließlich fand sie einen Kompromiss. Sie würde Raymond sehen, da das Schicksal ihn zu ihr geführt hatte und ihre Beständigkeit und Hingabe seine Freundschaft verdienen musste. Doch sollten ihre Rechte in Bezug auf ihn, und ihre liebgewonnene Unabhängigkeit, nicht durch sein Mitleid verletzt werden, weder durch das Eingreifen der komplizierten Gefühle, die mit der Leistung finanzieller Unterstützung verbunden sind, noch durch die entsprechenden Rollen des Gebers und des Empfängers von Wohltaten. Ihr Geist war von ungewöhnlicher Stärke; sie konnte ihre körperlichen Bedürfnisse ihren geistigen Wünschen unterwerfen und eher Kälte, Hunger und Elend erdulden, als es in einem strittigen Punkt auf Glück ankommen zu lassen. Ach! dass in der menschlichen Natur solch ein Grad der geistigen Disziplin und solch eine verächtliche Vernachlässigung der Natur nicht mit der höchsten moralischen Vorzüglichkeit zusammenfiel! Doch die Entschlossenheit, die ihr erlaubte, den Qualen der Entbehrung zu widerstehen, entsprang der übergroßen Spannkraft ihrer Leidenschaften; und der äußerste Eigenwille, auf welchem dies fußte, war dazu bestimmt, selbst das Idol zu zerstören, dessen Anbetung sie dieses unbedeutende Elend unterordnete.
Ihre Treffen wurden fortgesetzt. Nach und nach erzählte Evadne ihrem Freund die ganze Geschichte, von dem Makel, den ihr Name in Griechenland erhalten hatte, und von dem Gewicht der Sünde, das seit dem Tod ihres Mannes auf ihr lastete. Als Raymond sich erbot, ihren Ruf wiederherzustellen und der Welt ihre wahre Vaterlandsliebe zu beweisen, erklärte sie, dass sie nur durch ihre gegenwärtigen Leiden auf eine Erleichterung von ihren Gewissensbissen hoffte; dass in ihrem Geisteszustand, so krank er auch sein mochte, die Notwendigkeit der Beschäftigung heilende Medizin sei. Sie endete damit, indem sie ihm das Versprechen abpresste, dass er für die Dauer eines Monats von der Erörterung ihrer Interessen absehen möge, und erst nach dieser Zeit werde sie seinen Wünschen zum Teil nachgeben. Sie konnte nicht umhin wahrzunehmen, dass jede Veränderung sie von ihm trennen würde, wo sie ihn doch jetzt jeden Tag sah. Seine Verbindung mit Adrian und Perdita wurde nie erwähnt; er war für sie ein Meteor, ein einsamer Stern, der zu seiner bestimmten Stunde in ihre Hemisphäre aufstieg, dessen Erscheinen Glückseligkeit brachte, und welcher, obschon er unterging, nie verfinstert wurde. Er kam jeden Tag in ihre elende Unterkunft, und seine Gegenwart verwandelte diese in einen süß duftenden Tempel, der vom reinen Licht des Himmels erhellt wurde; er nahm an ihrem Rausch teil. »Sie errichteten eine Mauer zwischen sich und der Welt«. – Draußen wüteten tausend Harpyien, Reue und Elend und erwarteten den für ihr Eindringen bestimmten Moment. Drinnen war unschuldiger Friede, unbekümmerte, täuschende Freude, Hoffnung, deren Anker unbewegt über ruhigem, aber wechselhaftem Wasser schwebte.
Während Raymond solcherart in Visionen von Macht und Ruhm versunken war, während er auf die gesamte Herrschaft über die Elemente und den Geist des Menschen hoffte, entging das Gebiet seines eigenen Herzens seiner Aufmerksamkeit; und aus dieser ungedachten Quelle entsprang der mächtige Strom, der seinen Willen überwand und Ruhm, Hoffnung und Glück ins Meer des Vergessens trug.
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