Der letzte Mensch. Mary Shelley

Der letzte Mensch - Mary Shelley


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näherte, ergriff sie meine Hand und zog mich in ein anderes Zimmer; sie warf sich in meine Arme und weinte und schluchzte eine geraume Zeit bitterlich. Ich versuchte, sie zu beruhigen, sprach ihr Mut zu, fragte, welche gewaltigen Konsequenzen sich selbst auf unser Versagen hin ergeben würden. »Mein Bruder«, rief sie, »Beschützer meiner Kindheit, lieber, lieber Lionel, mein Schicksal hängt an einem seidenen Faden. Ich bin jetzt ganz von euch umgeben – dir, dem Begleiter meiner Kindheit, Adrian, der mir so lieb ist als ob wir durch Bande des Blutes miteinander verbunden wären, Idris, der Schwester meines Herzens, und ihren entzückenden Kindern. Dies, o dies mag das letzte Mal sein, dass wir alle beisammen sind!«

      Plötzlich hielt sie inne und rief aus: »Was habe ich gesagt? – dummes närrisches Mädchen, das ich bin!« Sie sah mich wild an, und, sich plötzlich beruhigend, entschuldigte sich für das, was sie ihre bedeutungslosen Worte nannte, und sagte, dass sie tatsächlich von Sinnen sein müsse, denn so lange Raymond lebte, müsse sie glücklich sein; und dann ließ sie mich ruhig gehen, wenngleich sie noch weinte. Raymond nahm nur ihre Hand, als er ging, und sah sie ausdrucksvoll an; sie antwortete mit einem Blick voller Weisheit und Einverständnis.

      Armes Mädchen! Was sie damals durchlitten hat! Ich konnte Raymond nie die Prüfungen verzeihen, die er ihr auferlegt hatte, weil sie von einem selbstsüchtigen Gefühl seinerseits ausgingen. Er hatte geplant, wenn er in seinem gegenwärtigen Versuch fehlschlagen sollte, sich, ohne sich von irgendeinem von uns zu verabschieden, nach Griechenland zu begeben und nie mehr nach England zurückzukehren. Perdita beugte sich seinen Wünschen, denn seine Zufriedenheit war das Hauptziel ihres Lebens, die Krone ihres Genusses; aber uns alle, ihre Gefährten, die geliebten Teilhaber ihrer glücklichsten Jahre, zu verlassen und in der Zwischenzeit diesen schrecklichen Entschluss zu verbergen, war eine Aufgabe, die ihre seelische Stärke beinahe überstieg. Sie war beauftragt worden, ihre Abreise vorzubereiten; während dieses entscheidenden Abends hatte sie Raymond versprochen, aus unserer Abwesenheit Nutzen zu ziehen, um bereits eine Etappe der Reise vorauszufahren, und er würde, nachdem seine Niederlage gewiss war, uns verlassen und sich ihr anschließen.

      Obschon ich, als ich über dieses Vorhaben informiert wurde, bitter beleidigt von der geringen Rücksicht war, die Raymond den Gefühlen meiner Schwester entgegenbrachte, fand ich mich durch Überlegung darein, zu bedenken, dass er unter der Macht einer so starken Erregung handelte, dass sie ihm das Bewusstsein und folglich die Schuld an seinem Fehlverhalten nahm. Wenn er uns erlaubt hätte, an seiner Aufregung teilzuhaben, wäre er mehr unter der Führung der Vernunft gewesen. Sein Ringen um den Anschein von Gelassenheit wirkte jedoch mit solcher Heftigkeit auf seine Nerven, dass er nicht mehr befähigt war, seine Selbstbeherrschung zu wahren. Ich bin überzeugt, dass er im schlimmsten Fall von der Küste zurückgekehrt wäre, um sich von uns zu verabschieden und sich mit uns zu beraten. Doch die Aufgabe, die Perdita auferlegt wurde, war nicht minder qualvoll. Er hatte von ihr ein Schweigegelübde erpresst; und ihre Rolle in dem Theaterstück, da sie es allein aufführen sollte, war die quälendste, die ersonnen werden konnte. Um jedoch zu meiner Erzählung zurückzukehren:

      Die Debatten waren bisher lang und laut gewesen; sie waren oft nur aus Gründen der Verzögerung in die Länge gezogen worden. Doch jetzt schien jeder Angst zu haben, dass der verhängnisvolle Augenblick vorübergehen sollte, während die Wahl noch unentschieden war. Ungewohnte Stille herrschte im Parlament, die Mitglieder sprachen flüsternd, und die gewöhnlichen Geschäfte wurden rasch und still abgewickelt. In der ersten Phase der Wahl war der Herzog von –––– ausgeschieden; die Entscheidung sollte daher zwischen Lord Raymond und Mr. Ryland getroffen werden. Letzterer hatte sich des Sieges gewiss geglaubt, bis Raymond auftauchte; und seit dessen Name als Kandidat hinzugefügt worden war, hatte er mit Eifer um Stimmen geworben. Er war jeden Abend erschienen, Ungeduld und Wut zeichneten sich in seinen Blicken ab, wenn er uns von der anderen Seite von St. Stephen’s anstarrte, als ob sein bloßes Stirnrunzeln unsere Hoffnungen überschatten könnte.

      Alles in der englischen Verfassung war auf die bessere Erhaltung des Friedens hin ausgestaltet worden. Am letzten Tag durften nur zwei Kandidaten verbleiben; und um, wenn möglich, den letzten Kampf zwischen diesen zu vermeiden, wurde demjenigen ein Bestechungsgeld angeboten, der freiwillig seine Ansprüche aufgeben sollte; ihm würde ein ehrenhafter Posten mit einer großzügigen Entlohnung zuteil und sein Erfolg bei künftigen Wahlen erleichtert werden. Seltsamerweise war jedoch noch kein Fall eingetreten, in dem einer der beiden Kandidaten auf dieses Mittel zurückgegriffen hätte; in der Folge war das Gesetz obsolet geworden, und in unseren Diskussionen wurde es von keinem von uns erwähnt. Zu unserer äußersten Überraschung wurden wir, als wir uns in einem Komitee für die Wahl des Protektors zusammensetzen sollten, von dem Mitglied, das Ryland nominiert hatte, darüber benachrichtigt, dass dieser Kandidat seine Ansprüche aufgegeben hatte. Die Neuigkeit wurde zunächst schweigend aufgenommen; ein verwirrtes Murmeln erhob sich; und als der Vorsitzende Lord Raymond für rechtskräftig gewählt erklärte, erhob man sich zu einem einstimmigen Applaus und Jubelrufen. Es schien, als ob jede Stimme, unabhängig von der Angst vor einer Niederlage, selbst wenn Mr. Ryland nicht zurückgetreten wäre, sich zugunsten unseres Kandidaten vereint hätte. In der Tat kehrten jetzt, da die Idee des Wettstreits abgelehnt war, alle Herzen zu ihrem früheren Respekt und ihrer Bewunderung für unseren fähigen Freund zurück. Jeder empfand, dass England niemals einen Protektor gesehen hatte, der wie er geeignet dafür gewesen wäre, die anstrengenden Pflichten dieses hohen Amtes zu erfüllen. Einstimmig dröhnte der Name Raymonds durch die Kammer.

      Er trat ein. Ich saß auf einem der am höchsten gelegenen Sitze und sah ihn den Gang zum Rednertisch hinaufgehen. Die natürliche Bescheidenheit seines Wesens überwand die Freude seines Triumphes. Er sah sich zaghaft um; seine Augen verschleierten sich. Adrian, der neben mir war, eilte die Bänke herabspringend zu ihm und war im nächsten Augenblick an seiner Seite. Seine Gegenwart belebte unseren Freund wieder; und als er begann zu sprechen und zu handeln, verschwand sein Zögern, und er glänzte voller Erhabenheit und Siegesbewusstsein. Der ehemalige Lordprotektor nahm ihm den Eid ab, überreichte ihm die Amtsabzeichen und führte die Einsetzungszeremonie durch. Die Versammlung löste sich danach auf. Die Obersten des Staates drängten sich um den neuen Magistrat und führten ihn zum Regierungspalast. Adrian verschwand plötzlich und kehrte zu der Zeit, als Raymonds Anhänger nur auf unsere vertrauten Freunde reduziert waren, mit Idris zurück, damit sie ihren Freund zu dessen Erfolg beglückwünschen konnte.

      Aber wo war Perdita? Als Raymond sich im Falle eines Misserfolgs um einen unbeobachteten Rückzug bemüht hatte, hatte er zu bestimmen vergessen, auf welche Weise sie von seinem Erfolg hören sollte; und sie war zu aufgeregt gewesen, um auf diesen Umstand zurückzukommen. Als Idris eintrat, hatte Raymond sich so weit selbst vergessen, dass er nach meiner Schwester fragte; erst, als er von ihrem mysteriösen Verschwinden hörte, fiel es ihm wieder ein. Adrian jedoch war bereits ausgegangen, um die Flüchtige zu suchen, sich vorstellend, dass ihre unbezähmbare Angst sie in die Nähe des Parlaments getrieben und vielleicht irgendein unglückliches Ereignis sie aufgehalten habe. Aber Raymond verließ uns plötzlich, ohne sich zu erklären, und im nächsten Moment hörten wir ihn die Straße herabgaloppieren, trotz des Windes und des Regens, die stürmisch über die Erde fegten. Wir wussten nicht, wie weit er gehen musste, und trennten uns bald, da wir annahmen, dass er in Bälde mit Perdita in den Palast zurückkehren würde und dass sie es nicht bedauern würden, Zeit alleine miteinander verbringen zu können.

      Perdita war weinend und untröstlich mit ihrem Kind in Dartford angekommen. Sie richtete sich ganz darauf ein, sich auf den Fortgang ihrer Reise vorzubereiten, und verbrachte, nachdem sie ihre süße schlafende Last auf ein Bett gelegt hatte, mehrere Stunden in äußerster Anspannung. Zuweilen beobachtete sie den Kampf der Elemente und dachte, während sie in düsterer Verzweiflung dem Regen lauschte, dass auch diese sich gegen sie verschworen hätten. Im nächsten Moment beugte sie sich über ihre Tochter, suchte Ähnlichkeiten mit dem Vater in ihren Zügen und fragte sich, ob sie im weiteren Leben dieselben Leidenschaften und unkontrollierbaren Impulse aufweisen würde, die ihn unglücklich machten. Dann wiederum bemerkte sie mit einer Aufwallung von Stolz und Freude in den Gesichtszügen ihres kleinen Mädchens das gleiche schöne Lächeln, das Raymonds Gesicht oft erstrahlen ließ. Der Anblick beruhigte sie. Sie dachte an den Schatz, den sie in der Zuneigung ihres Lords besaß; seine Leistungen, welche die seiner Zeitgenossen übertrafen, seine Intelligenz, seine Hingabe an sie. Bald dachte


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