Der letzte Mensch. Mary Shelley
man lasse mich ein wenig von diesem Urteil abweichen, das ich über mich selbst gegeben habe. Als meine Mutter starb, übergab sie, zusätzlich zu ihren anderen halbvergessenen und falsch angewandten Lektionen, ihr anderes Kind mit feierlicher Ermahnung meiner brüderlichen Vormundschaft; und diese eine Pflicht erfüllte ich nach besten Kräften, mit all dem Eifer und der Zuneigung, zu der meine Natur fähig war. Meine Schwester war drei Jahre jünger als ich; ich hatte sie als Kleinkind gehütet, und selbst als der Unterschied unserer Geschlechter uns durch verschiedene Beschäftigungen in großem Maße voneinander trennte, blieb sie doch der Gegenstand meiner sorgsamen Liebe. Als Waisen, im vollsten Sinne des Wortes, waren wir die Ärmsten unter den Armen und die Verachteten unter den Unwürdigen. Wo man mir wegen meiner Kühnheit und meines Mutes eine Art von respektvoller Abneigung entgegenbrachte, waren ihre Jugend und ihr Geschlecht, die keine Zärtlichkeit weckten, weil sie ihr als Schwäche ausgelegt wurden, ihr hinderlich und Ursache zahlloser Demütigungen; und ihre eigene Veranlagung war nicht so beschaffen, dass sie die schädlichen Auswirkungen ihres niedrigen Standes hätte mindern können.
Sie war ein einzigartiges Wesen und hatte, gleich mir, viele Eigenarten unseres Vaters geerbt. Ihr Antlitz war voller Ausdruck; ihre Augen waren nicht dunkel, aber undurchdringlich tief; man vermeinte, in ihrem klugen Blick Raum um Raum zu entdecken und empfand, dass ihre Seele ein Universum des Denkens in sich barg. Sie war blass und blond, ihr goldenes Haar kräuselte sich an ihren Schläfen und seine satte Farbe kontrastierte mit dem hellen Marmor darunter. Ihr grobes Bauernkleid, das wenig zu der Kultiviertheit, die ihr Gesicht ausdrückte, passen wollte, harmonierte dennoch auf eine seltsame Weise damit. Sie glich einer von Guidos Heiligen, himmlisch in ihrem Herzen wie in ihrem Äußeren, und Kleidung und sogar Gestalt traten hinter dem Verstand zurück, der aus ihrem Antlitz blitzte.
Obschon sie so liebreizend und voller edler Gefühle war, war das Wesen meiner armen Perdita (denn das war der phantasievolle Name, den meine Schwester von ihrem sterbenden Vater erhalten hatte) nicht gänzlich frei von Fehlern. Ihr Betragen war kalt und abweisend. Wäre sie von Menschen aufgezogen worden, die sie mit Zuneigung behandelt hätten, wäre sie vielleicht anders gewesen; doch ungeliebt und vernachlässigt zahlte sie den Mangel an Güte mit Misstrauen und Schweigen zurück. Sie unterwarf sich denen, die Autorität über sie hatten, doch ihre Brauen waren stets düster zusammengezogen; sie schien von jedem, der sich ihr näherte, Feindschaft zu erwarten, und ihre Handlungen wurden von demselben Gefühl geleitet. Sämtliche Zeit, über die sie frei verfügen konnte, verbrachte sie in der Abgeschiedenheit. Sie wanderte zu den am wenigsten besuchten Orten und erklomm gefährliche Höhen, damit sie sich an diesen entlegenen Stellen in die Einsamkeit zurückziehen konnte. Oft verbrachte sie ganze Stunden damit, auf den Pfaden im Walde auf und ab zu gehen; sie wob Girlanden aus Blumen und Efeu oder betrachtete den flackernden Schatten und die glänzenden Blätter; zuweilen saß sie neben einem Rinnsal und warf, wenn ihre Gedanken zur Ruhe kamen, Blumen oder Kieselsteine ins Wasser, um zu beobachten, wie diese schwammen und jene sanken; oder sie setzte Boote aus Baumrinde oder Blättern ins Wasser, mit einer Feder als Segel, und verfolgte den Kurs ihres Gefährts zwischen den Stromschnellen und Untiefen des Baches. Indessen ersann ihre rege Phantasie tausend Möglichkeiten; sie träumte »von schreckender Gefahr zu See und Land« – sie verlor sich verzückt in diesen selbstgeschaffenen Wanderungen und kehrte mit unwilligem Geist in die trübe Enge des gewöhnlichen Lebens zurück.
Die Armut war die Wolke, die ihre Vorzüge verhüllte, und alles, was in ihr gut war, erstarb aus Mangel am freundlichen Tau der Zuneigung. Sie hatte nicht einmal den gleichen Vorteil wie ich, der ich eine Erinnerung an unsere Eltern hatte; sie klammerte sich an mich, ihren Bruder, als ihren einzigen Freund, doch ihre Verwandtschaft mit mir vergrößerte nur die Abneigung, die ihre Pflegeeltern für sie empfanden; und jeder begangene Fehler wurde von ihnen zu Verbrechen erhöht. Wäre sie in jenem Lebensumfeld aufgewachsen, das die Natur ihr durch die ererbte Zartheit ihres Geistes und ihrer Person eigentlich zugedacht hatte, wäre sie vielleicht ein Gegenstand der Anbetung gewesen, denn ihre Tugenden waren ebenso herausragend wie ihre Fehler. All das Genie, das das Blut ihres Vaters geadelt hatte, entflammte das ihrige; eine großzügige Flut floss in ihren Adern. List, Neid oder Niedertracht liefen ihrer Natur zuwider, ihr Antlitz könnte, wenn es von einem liebenswürdigen Gefühl erleuchtet wurde, einer Königin der Nationen angehört haben, ihre Augen waren strahlend, ihr Auftreten furchtlos.
Obschon wir durch unsere Lage und Gemütsanlagen fast gleichermaßen von den üblichen Formen des sozialen Umgangs abgeschnitten waren, bildeten wir einen starken Gegensatz zueinander. Ich benötigte stets die Anregung durch Gesellschaft und Beifall. Perdita war sich selbst genug. Ungeachtet meiner gesetzlosen Gewohnheiten war ich im Grunde gesellig, wohingegen sie die Abgeschiedenheit suchte. Ich verbrachte mein Leben unter greifbaren Realitäten, sie erlebte das ihre wie einen Traum. Man könnte sagen, ich würde sogar meine Feinde lieben, denn indem sie mich reizten, schenkten sie mir Befriedigung. Perdita mochte ihre Freunde im Grunde nicht, denn sie störten sie in ihren träumerischen Stimmungen. Alle meine Gefühle, selbst die der Freude und des Triumphes, wurden in Bitterkeit verwandelt, wenn ich sie nicht teilen konnte. Perdita nahm noch in der Freude ihre Zuflucht zur Einsamkeit und konnte von Tag zu Tag existieren, ohne je ihre Gefühle auszudrücken oder freundschaftliche Zuneigung in einem anderen zu suchen. Ja, sie konnte lieben und Zärtlichkeit für den Anblick und die Stimme eines Freundes empfinden, während ihr Verhalten doch die kälteste Zurückhaltung ausdrückte. Ihre Empfindung wandelte sich zum Gefühl, und sie sprach erst, wenn sich ihre Wahrnehmung äußerer Gegenstände mit anderen vermischt hatte, die die eigentliche Frucht ihres Geistes waren. Sie war wie ein fruchtbarer Boden, der die Lüfte und Taue des Himmels aufnahm, um sie in den schönsten Formen von Früchten und Blumen wieder ans Licht hervorzubringen; doch dann wieder war sie oft ebenso düster und zerklüftet wie dieser Boden, wurde aufgewühlt und im Verborgenen neu bestellt.
Sie wohnte in einem Häuschen, von dem eine niedrige Grasböschung zu den Wassern des Sees von Ullswater abfiel; ein Buchenwald erstreckte sich den Hügel hinauf, und ein von der Anhöhe sanft hinabfließender, plätschernder Bach lief durch mit Pappeln beschattete Uferwiesen in den See. Ich lebte bei einem Bauern, dessen Haus höher in den Hügeln erbaut war: dahinter erhob sich ein dunkler Fels, in dessen Spalten auf der Nordseite den ganzen Sommer hindurch Schnee lag. Vor Morgengrauen führte ich meine Herde zu den Schafweiden und hütete sie den Tag hindurch. Es war ein mühevolles Leben; denn Regen und Kälte waren häufiger als Sonnenschein; doch ich trotzte den Elementen voller Stolz. Mein treuer Hund bewachte die Schafe, während ich zum Treffpunkt meiner Kameraden und von dort zur Ausführung unserer Pläne schlich. Gegen Mittag trafen wir uns wieder, und wir warfen unsere Bauernkost verächtlich fort, wenn wir Holz für unser Feuer aufschichteten und es zu lodernden Flammen entfachten, die dazu bestimmt waren, das aus den nahe gelegenen Gehegen gestohlene Wild zuzubereiten. Es folgten die Geschichten von haarsträubenden Verfolgungsjagden, Kämpfen mit Hunden, Hinterhalt und Flucht, während wir auf Zigeunerart unseren Kessel umringten. Die Suche nach einem verirrten Lamm oder die Maßnahmen, mit deren Hilfe es uns gelang oder wir bestrebt waren, der Bestrafung zu entgehen, füllten die Stunden des Nachmittags. Am Abend trottete meine Herde in ihren Pferch und ich zu meiner Schwester.
Es geschah in der Tat selten, dass wir, um einen altmodischen Ausdruck zu gebrauchen, ungeschoren davonkamen. Unsere karge Kost wurde oft durch Schläge und Einkerkerung ersetzt. Einmal, als ich dreizehn Jahre alt war, wurde ich für einen Monat ins Bezirksgefängnis geschickt. Als ich herauskam, hatte sich meine Moral nicht verbessert, sondern mein Hass auf meine Unterdrücker verzehnfacht. Brot und Wasser zähmten mein Blut nicht, auch Einzelarrest inspirierte mich nicht mit sanften Gedanken. Ich empfand Wut, Ungeduld und Elend. Meine einzigen glücklichen Stunden waren jene, in denen ich Rachepläne ersann. Diese wurden in meiner erzwungenen Einsamkeit vervollkommnet, so dass ich während der ganzen folgenden Saison, und ich wurde Anfang September aus der Haft entlassen, nie versäumte, mir und meinen Kameraden ausgezeichnete und reichliche Kost zu beschaffen. Das war ein herrlicher Winter. Der scharfe Frost und der schwere Schnee zähmten die Tiere und hielten die Gutsherren an ihren Kaminen. Wir bekamen mehr Wild, als wir essen konnten, und mein treuer Hund bekam durch den Genuss unserer Abfälle ein glänzendes Fell.
So verstrichen die Jahre, und die Jahre vergrößerten nur noch meinen Durst auf die Freiheit und meine Verachtung für alles, was nicht so wild und verwegen war wie ich. Im Alter von sechzehn Jahren