Lernen aus dem Lockdown?. Группа авторов
The Fugees (1996)
Im Lockdown nimmt sich das Theater ganz viel vor. Auf seiner To-do-List steht: Nach der Krise muss ich die Kunst sein, die die postmigrantische Gesellschaft bei sich im Publikum versammelt. Tage und Wochen vergehen, und plötzlich ist so viel zu tun, dass das Theater vergisst, was früher schiefgelaufen ist. Es verzettelt sich mal wieder, denn schon vor der Krise hätte es besser mehr getan, als nur migrantisierte Künstler*innen in sein Programm zu integrieren. Auch wenn heute viel öfter von postmigrantischem Theater und Diversität die Rede ist, tun viele Institutionen so, als ginge es noch immer darum, sich „interkulturell zu öffnen“. Es geht aber nicht um die Bereitschaft weißer Dominanzkultur, sich selbst migrantisierte Positionen zur Seite zu stellen. Stattdessen müssen Institutionen lernen, dass sie keine Bollwerke sind, sondern flexible Systeme von Öffnung und Schließung. Theater muss lernen, seine Apparate ständig auseinanderzunehmen und neu zusammenzubauen, kaum dass sie zu laufen beginnen. Nachdem Deutschland jahrzehntelang seine Realität als Einwanderungsland verpennt hat, geht es nicht allein darum, bisher ausgeschlossene Akteur*innen, ihre Geschichte(n), Formate und Dramaturgien hereinzulassen. Ein postmigrantisches Theater ist nicht nur sein „diversitätssensibles“ Programm, es muss eine Institution sein, die sich kontinuierlich darauf vorbereitet, diejenigen am Apparat zu beteiligen, die in Zukunft noch dazukommen wollen.
Wenn das schon der Fall wäre, würde das Theater des Lockdowns vielleicht ganz anders aussehen. Das situierte Wissen von 70 Jahren Migrationsgeschichte(n) hätte Eingang in die Theaterarbeit gefunden. Denn lange bevor das Theater online ging, gab es schon Millionen Expert*innen für Homevideos in Deutschland. Mit Kassettenrecordern und Videokameras produzierten sogenannte Gastarbeiter*innen und ihre Familien schon mit modernsten Kommunikationstechnologien, als in weißen Amtszimmern noch von „Ausländerkulturarbeit“ die Rede war. Da wurden quer durchs Wohnzimmer bombastische Bühnenbilder gebaut, auf der Tanzbühne im Kinderzimmer probierte das Ensemble, und in der Küche schrie die Chefdramaturgin den Intendanten an. Wer solche Meisterwerke kennt, die als Kassetten- und Videobriefe an weit entfernte Verwandte und Freund*innen verschickt wurden, kann im Lockdown der Theater nur müde gähnen. Bereits 2004 analysierte Fatima El-Tayeb: „Das jüngste Medieninteresse an der ‚zweiten Generation‘ scheint kaum mehr als eine erneute Objektifizierung, eher hippes Saison-Thema als echtes Interesse an den Lebensumständen dieser neuentdeckten Gruppe.“ Stattdessen ist die Postmigrantisierung des Freien Theaters bereits vor der Pandemie ins Stocken geraten. Der Erfolg von Identitätspolitiken ist in ein kuratorisches Paradigma übersetzt worden, über das die Institutionen der Dominanzkultur die Sichtbarkeit marginalisierter Künstler*innen verwalten.
Dieses Paradigma führt dazu, dass eine marginalisierte Gruppe nach der anderen zum neuen Subjekt der Emanzipation ausgerufen wird, nur um dann nach einer Weile von einer anderen ersetzt zu werden. Die Subjekte antidiskriminatorischer Kämpfe werden in den Spielplänen so schnell ausgewechselt und neu besetzt, dass sie kaum strukturell wirksam werden können: Queers vs. Kanaks vs. Crips vs. Climate. In den Konjunkturen identitätspolitisch informierter Programme werden diejenigen zur Verfügungsmasse (eher) privilegierter Kurator*innen, die die gerade aktuellen Marginalisierungsdiskurse notgedrungen glaubhaft verkörpern.
Zu Beginn des Lockdowns war im Theater und darüber hinaus plötzlich von Solidarität die Rede. Doch schon jetzt ist Skepsis erlaubt. Nach den ersten Geldspritzen und Sofortmaßnahmen scheint es so, als sollten vor allem die Ungleichheitsmaschinen intakt gehalten werden. Ob die Erfahrung der Pandemie tatsächlich dazu beiträgt, dass Solidarität über Identitäten und Interessen hinaus mehr ist als eine flüchtige Illusion, bleibt abzuwarten.
Michael Annoff arbeitet ethnografisch, kuratorisch und vermittelnd. Nach dem Studium der Volkskunde/Kulturanthropologie war Michael an der Graduiertenschule der Universität der Künste tätig und lehrte dort im Studium Generale. Seit 2016 akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam. Michael hat 309 Freund*innen auf Facebook.
Nuray Demir arbeitet künstlerisch, kuratorisch und choreografisch in den visuellen und performativen Künsten. Nach dem Studium der Freien Kunst realisierte Nuray Projekte auf Kampnagel, in den Sophiensælen, dem Hebbel am Ufer in Berlin und bei den Wiener Festwochen. Seit 2019 ist sie Teil der künstlerischen Leitung von District*Schule ohne Zentrum. Nuray hat 261 Follower auf Instagram.
Seit 2018 entwickeln Michael und Nuray gemeinsam „Kein schöner Archiv“. Es dokumentiert das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft und wäre 2020 Teil der Impulse-Akademie gewesen. Ab August 2020 ist „Kein schöner Archiv“ ein Jahr lang mit „Unfassbare Geschichte(n)“ zu Gast im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum. „Kein schöner Archiv“ hat 252 Likes auf Facebook.
BALLHAUS NAUNYNSTRASSE, BERLIN, 4. April 2020, Foto: Wagner Carvalho (Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer), der im Haus arbeitet, während die Belegschaft größtenteils im Homeoffice ist.
WWW.WASSOLLDASTHEATERIMINTERNET.DE WAS MACHT EIN INKLUSIVES THEATERKOLLEKTIV IN PANDEMIEZEITEN? HOMEOFFICE?
Meine Damen und Herren
Am 11. März feierten wir auf Kampnagel im großen Team aus Theaterschaffenden mit und ohne Behinderung die Premiere von „Die Stadt bin ich“. Eine Woche später war die Stadt leer gefegt und unsere „Stadt“ gut verpackt im Fundus.
Direkt aus unserer gewohnten Struktur einer Theaterproduktion sind wir in den Shutdown gefallen. In der ersten Zeit waren wir damit beschäftigt, unsere Situationen zu klären: Wer ist wo „untergekrochen“? Geht es allen soweit gut? Wie können wir weiterhin zusammenarbeiten und mit allen in Kontakt bleiben? Denn die Voraussetzungen für virtuelle Treffen mussten wir zunächst erst herstellen: Geräte und Software besorgen, den Umgang damit erklären und ohne real anwesende Assistenz üben. Einige von uns besitzen weder Smartphone noch Computer – sehr viele haben noch nie zuvor eigenständig an einer Videokonferenz teilgenommen. Neben den technischen Aspekten gibt es viele Verfahrensfragen, wie wir ein digitales Ensemblemeeting inhaltlich produktiv und für alle zufriedenstellend gestalten.
Auf anderen Ebenen verlief die digitale Zusammenarbeit aber auch sehr schnell und unkompliziert. In unserem Netzwerk barner 16 haben wir per E-Mail, Sprachnachricht oder Handyvideo diverse Videos produziert und eine neue Hörspielreihe gestartet. Das ist uns wichtig: Unsere Stimmen bleiben so erst einmal hörbar.
Wir lernen:
Corona verschärft auch bei uns Ungleichheiten – innerhalb des Ensembles sowie zwischen uns und anderen Gruppen. Einige gehen virtuos mit ihrem Smartphone um, andere haben keinerlei eigenständigen Zugang zum Internet.
Wir haben viel Neues gelernt, von dem wir zukünftig profitieren können. Allerdings müssen wir uns im ersten Schritt sehr intensiv mit Dingen beschäftigen, die für viele Menschen ganz selbstverständlich erscheinen, und verlieren so Zeit, die wir nicht für anderes – ob Kunst, Interessensvertretung oder Selbstfürsorge – nutzen können.
Melanie Lux erzählt: „Wenn wir nicht mehr live miteinander proben können und jetzt zu Hause arbeiten – im Homeoffice, wie finde ich das denn? Also: Ich habe meine gewohnte Umgebung, ich kann besser nachdenken, kann Filmchen zwischendurch drehen und an meine Kollegen schicken, kann mit euch in einer Videokonferenz sein und alle sehen und sprechen. Ansonsten gab es ja das Kontaktverbot, und ich wohne allein. Da fällt mir auch die Decke auf den Kopf – mir fehlt das, ihr alle in echt, in unserer gewohnten Umgebung …“
Unsere produktive Kraft ist die Spontaneität. Wir inspirieren und helfen uns im direkten gegenseitigen Austausch – wie Melanie beschreibt: in echt.
Die gemeinsame Anwesenheit an einem Ort ist allerdings nicht nur für unseren Arbeitsalltag wichtig. Auch in unseren Stücken sind körperliche Präsenz und die Atmosphäre im Raum von großer Bedeutung. Gerade auch weil Sprache für einige von uns mit Barrieren verbunden ist und wir daher verschiedene Kanäle für Kommunikation und Verstehen nutzen.
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