Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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aus dem Mund gerutscht, bevor sie noch nachdenken konnte. Yann tritt nach einer leeren Krebsschale, daß sie über den Sand fegt.

      »Das ist nicht so einfach.«

      Sein Blick sucht nach einem Punkt weit hinten am Horizont, wo ein Leuchtturm seinen dicken Zeigefinger durch einen Riß in der Wolkendecke bohrt.

      »Vielleicht sollte ich lieber nicht fragen, aber das steht doch die ganze Zeit zwischen uns.«

      Sie bleiben nebeneinander stehen und schauen zum Leuchtturm, wo vereinzelte Möwen ihre Flügel auf dem aufsteigenden Luftstrom ausruhen. Irgendwo hinter ihnen, über der Wiese hinter den flachen Klippen, zwitschern die Frühlingsschwalben.

      Yann schüttelt den Kopf.

      »Laß uns weitergehen.«

      Die Füße sinken in den gröberen Kies ein, und sie gehen lieber zu den flachen braunen Klippen, an denen Girlanden von kleinen Muscheln, kryptische Mitteilungen in blauen Schalen, unter ihren Sohlen zerbrechen.

      Zwischen den Dünen führt sie ein schmaler Pfad zu einer Gruppe von Kiefern. Ein Gürtel von schütterem trockenem Gras umgibt einen Kreis aus groben Granitblöcken, ein von Menschenhand geschaffener Kontrast zum Sand der Dünen und dem Strandhafer.

      Der Wind vom Meer erreicht sie hier nicht mehr, dennoch hat Nanna das Gefühl, als wäre die Temperatur um ein paar Grade gesunken. Die blaugrünen Nadeln der Bäume neutralisieren das weiße Licht, das Geräusch der leichten Brandung wird von der dumpfen Stille geschluckt, die über den großen Felsen und den windzerzausten Bäumen hängt.

      Yann hat sich aufs Gras gesetzt, die Arme um seine angezogenen Beine geschlungen, die Stirn auf die Knie gelegt, ist plötzlich stumm.

      Nanna kniet sich neben ihn auf das rauhe Gras, legt ihm eine Hand auf den Arm.

      Die Worte purzeln aus ihm heraus.

      »Hier war es, hier haben die Deutschen meinen Vater erschossen«, sagt er, und seine Stimme klingt atemlos. »Ich war vier Jahre alt, ich weiß nicht einmal, ob ich mich wirklich noch an ihn erinnern kann oder ob das nur die Bilder in Mémés Album sind.«

      Die Graswurzeln und die kurzen Disteln drücken sich in die Haut auf Nannas Knien, aber trotzdem beugt sie sich vor, will ihre Arme um Yann schlingen.

      »Laß es mich versuchen zu erzählen«, er hebt abwehrend eine Hand. »Das braucht dir nicht leid zu tun.« Er lehnt sich mit dem Rücken gegen einen der großen Steine, kaut auf der Unterlippe. »Meine Mutter hat nie öffentlich getrauert. Sie hat die Trauer in Wut verwandelt. Und das hat sich all die Jahre über nicht verändert.« Yann schluckt ein paarmal, dann fährt er fort.

      »Sie hat geweint, wenn wir allein waren, in ihrem Zimmer, ich habe es durch die Wand gehört. Der einzige Trost, den ich ihr geben konnte, war der, perfekt zu sein. Der perfekte Sohn.« Eine Träne rinnt aus seinem Augenwinkel, er dreht sein Gesicht dem Wind zu, läßt es in der leichten Brise trocknen. »Mémé hat mich hierher mitgenommen, als ich sieben, acht Jahre alt war. Mutter ist nie hier gewesen. Sie hat diesem Platz wie allem anderen den Rücken zugewandt. Ich bin oft hierhergegangen, ohne daß sie es gewußt hat. Allein.«

      Die Kälte vom Boden dringt in Nannas Unterleib, ihr gesamter Körper zittert leicht vor Anspannung.

      »Kinder sollen klein und hilflos sein, bevor sie stark werden.« Yann wischt sich die Augen mit dem Ärmel seines Pullovers ab. »Ich mußte von Anfang an stark sein.«

      »Man kann zu lange klein und hilflos sein. Ich würde lieber stark sein.«

      Nanna sucht in ihrem Gedächtnis nach einem vergessenen Schmerz, der in ihr voller Erregung zuckt. Plötzlich ist das Bild da.

      »Ich habe einmal mit meinem Vater und meiner Stiefmutter am Mittagstisch gesessen«, erzählt sie. »Ich war ungefähr sechs Jahre alt. Es gab Suppe, Blumenkohlsuppe. In meinem Teller war eine Kohlraupe. Ich habe meine Suppe gegessen. Ich habe alle kleinen Blumenkohlröschen gegessen, eine nach der anderen. Mein Vater und meine Stiefmutter haben sich unterhalten, ich traute mich nicht, sie zu stören, ich habe nur dagesessen und die Raupe angeguckt. Schließlich habe ich sie auf meinen Löffel genommen. Sie rührte sich nicht, lag nur ganz grün da, sie hatte kleine Warzen unter dem Bauch. Ich wußte nicht, was ich mit ihr anstellen sollte. Zum Schluß habe ich sie mir in den Mund gesteckt, ich habe sie geschluckt, ohne zu kauen. Danach habe ich Fleisch und Kartoffeln gegessen. Ich habe auch noch Erdbeeren mit Sahne gegessen. Und dann bin ich rausgegangen und habe mich übergeben.«

      Plötzlich muß sie lachen, als sie Yanns erschrockenes Gesicht sieht, ein kurzes Lachen, überrascht über die eigene Erzählung.

      »Meine Mutter ist nach meiner Geburt geisteskrank geworden, sie hat sich das Leben genommen. Mein Vater hat sie als die perfekte Frau verehrt, auch wenn er sich schnell wieder verheiratet hat. Es war meine Schuld, daß sie gestorben ist, das habe ich immer gewußt. Wenn ich wirklich hätte perfekt sein sollen, hätte ich am besten gar nicht erst existiert.«

      »Eine Raupe.«

      Yanns Gesicht verzieht sich zu einer ungläubigen Fratze.

      Nanna nickt.

      »Eine Raupe«, sagt sie. »Eine grüne Raupe mit kleinen Warzen unter dem Bauch.« Sie legt sich auf das rauhe Gras, auf den Sand, den das Blut der Hingerichteten einst rot färbte, streckt die Arme hoch über den Kopf. »Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal meiner besten Freundin. Ich hatte wohl Angst, ausgelacht zu werden.«

      »Immer, wenn man Angst hat, etwas zu tun, sagt Mémé: ›Laß die Sau zu Haus und nimm den kastrierten Eber mit.‹« Yann lächelt schief. »Am liebsten würde ich jetzt weinen, aber ich traue mich nicht.«

      Er hat sich neben sie auf den Rücken gelegt, blinzelt in den Himmel, an dem die Wolkendecke aufreißt und einen funkelnden hellblauen Himmel freigibt.

      »Ich verspreche dir, nie wieder eine Raupe zu essen, wenn du versprichst zu weinen, wenn du es willst.«

      »Nanna.« Yann stützt sich auf die Ellbogen, lehnt sich an sie. Sein Gesicht schiebt sich vor den Himmel, die Augen sind voller Zärtlichkeit, glänzen von Tränen. »Da, sieh«, sagt er.

      Als sie zurückkommen, ist Yanns Mutter, tadellos in Graublau gekleidet, dabei, kleine Pappschilder mit der Aufschrift »Réservé« auf den Tischen des Restaurants zu verteilen. Eine Frau in schwarzem Kleid mit weißer Schürze räumt das Geschirr von einem Ecktisch nach der Mahlzeit des Personals ab, am Buffet füllt ein dunkelhaariges junges Mädchen, dessen Pagenfrisur und rote Wangen an eine frisch bemalte Holzpuppe erinnern, eine Batterie glänzender Brotkörbe mit großen Scheiben braunkrustigen Brots.

      Yann winkt dem Mädchen zu. Er küßt der schwarzgekleideten Kellnerin die Wange, schiebt Nanna vor.

      »Lucienne ist hier, solange ich denken kann, du bist ein Teil des Inventars, nicht wahr, Lucienne? Sag Nanna guten Tag.«

      Eine kleine feste Hand, Augen, die hinter dicken Brillengläsern blitzen. Ein paar Worte in dieser sonderbaren Sprache, die Nanna nicht versteht, lassen Yann laut auflachen.

      Nanna schaut sich um, unsicher, ob sie selbst Grund für das Lachen ist.

      »Sie fragt, ob du immer nein sagst.« Yann stibitzt eine Brotscheibe von einem Tablett, das vorbeigetragen wird, das Mädchen droht ihm lächelnd, »nein heißt auf bretonisch nann

      Gierig beißt er ins Brot, sagt ein paar Worte mit vollem Mund, die eine Lachsalve bei der Frau auslösen. Mit beiden Händen umfaßt sie Nannas Oberarme, küßt laut in die Luft dicht an ihren Wangen.

      »Was hast du gesagt?«

      »Das verrate ich nicht.«

      Nanna kann nicht anders, sie muß mitlachen. Zum erstenmal, seit sie das Hotel betreten hat, fühlt sie sich sicher. Sie schaut der fröhlichen Frau direkt in die Augen.

      »Ganz im Gegenteil«, sagt sie.

      Hinter der lachenden Frau taucht das magere Gesicht eines Mannes in der Glastür zum Empfang auf. Neben


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