Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen
der scharfen Stimmen.
Auf der Place des Vosges, wo Mariclô jeden Vormittag mit ihrer kleinen Schaufel kratzt, wartet Nanna darauf, daß Yanns vertraute Umrisse unter den Ulmen auftauchen, eine Hungernde, die auf Brot wartet. Ihre Bank ist von anderen jungen Paaren besetzt, die mit ihren Schuhspitzen Muster in den Kies zeichnen und verstohlene Händedrücke austauschen, flüchtige Küsse.
Der Sprachkurs ist jetzt abgeschlossen, die wenigen Bekannten, die sie dort kennengelernt hat, sind in alle Winde zerstreut, und sie bietet ihre Hilfe an, benutzt die Pflichten, um ihre Unruhe zu zügeln. In den Stunden, die bisher ihre Freizeit ausmachten, folgt sie der nach Chlor riechenden Spur der Putzfrau, wischt Böden und reibt Kacheln blank. Die Erschöpfung holt sie jeden Abend ein, und sie schläft, traumlos, bis das schrille Klingeln des Weckers sie wieder wachrüttelt.
Der Vormittag ist strahlend blau, als Nanna aus der Metro herauskommt. Die Angst vor dem langen, einsamen Sonntag hat ihren Magen zusammengeschnürt, seit sie Mariclô zum traditionellen Sonntagsspaziergang mit der Großmutter angezogen hat, zum Schluß hat sie Nanna auf die Straße getrieben, wie einen Schlafwandler in die belebten Viertel um den Gare Montparnasse, hin zum Restaurant des Onkels. Mehr als eine Woche ist seit dem letzten Lebenszeichen von Yann vergangen. Vielleicht ist er ja immer noch in der Bretagne. Die Unsicherheit darüber, was sie erwartet, raubt ihr den Atem.
Der Boulevard wimmelt vor Menschen in Sonntagskleidung, Familien mit Kleinkindern in Klappkarren, kleinen Jungs in knielangen Shorts, Mädchen in hellen Kleidern, groß genug, daß sie hineinwachsen können. Die alten Paare humpeln an ihren Stöcken davon, ihre winterbleiche Haut kann das Tageslicht nach der langen Zeit der Dunkelheit kaum ertragen, die abgewetzten Stellen auf den dunklen Hosen der Männer glänzen in der Sonne.
Nanna bahnt sich ihren Weg durch das Gewimmel. Vor dem Restaurant bleibt sie stehen, tut so, als würde sie die Speisekarten in den Glaskästen betrachten, späht jedoch durch die großen Scheiben hinein. Einige der Kellner, die sie kennt, sind dabei, alles für die Essensgäste vorzubereiten, sie polieren Gläser mit weißen Tüchern, gleiten wie dunkle Fische zwischen den Tischen hindurch, glänzendes Besteck blinkt in ihren Händen. Ihre Lippen bewegen sich, aber sie kann nicht hören, was sie sagen. Weder den Onkel noch Yann kann sie erblicken.
Der Kellner, den sie am besten kennt, steht plötzlich in der Tür, ein Hauch von Mitleid ist in seinen neugierigen Augen zu sehen.
»Er kommt erst in einer Stunde.«
Die verschmähte Liebhaberin, die im Stich gelassene Braut, eine lächerliche Figur in jeder Beziehung. Der Fluchtimpuls ist überwältigend, trotzdem bleibt sie stehen.
Der Kellner hat sich bereits umgedreht, um wieder hineinzugehen.
»S’il vous plaît.«
»Oui?«
»Wo finde ich ihn?«
Sie sieht ihm direkt in die Augen, unterdrückt das Zittern in ihrer Stimme.
»Woher weiß ich, daß er dich sehen will?«
Der Kellner läßt eine Hand durch sein glänzend schwarzes Haar streichen, sein Blick ist etwas unsicher.
»Das will er.«
Sie hält seinen Blick fest, bis er die Achseln zuckt.
»Aber sei etwas diskret, ja?«
Er beugt sich vor, zeigt mit dem Daumen.
»Im vierten Stock«, sagt er und verschwindet wieder pfeifend im Restaurant.
Der Geruch nach Fritieröl und heißem Seifenwasser bildet in dem schmalen Treppenschacht eine fettige Spirale. Sie schleicht sich mit angehaltenem Atem an einer mattierten Glastür vorbei. Die Tür steht einen Spalt offen, und sie kann die Umrisse von Menschen dahinter erkennen, deren fleckenfreie Baumwollpullover und knisternde weiße Schürzen sie wie Pfleger in einer altmodischen Anstalt aussehen lassen, geisterhafte Wesen, die sich in dem Dunst bewegen. Ein Messer blitzt, die dumpfen Schläge eines Fleischklopfers punktieren den Lärm lauter Stimmen, klappernder Küchengeräte.
Die Türen mit dem verschrammten Metallbeschlag sehen aus, als könnten sie jeden Moment auf ihren abgenutzten Scharnieren aufschwingen und unbeschreibliche Gefahren freilassen. Hinter einer meint sie plötzlich die wütende Stimme des Onkels zu hören, dazu eine Frau, die ihm antwortet, schluchzend, in Tränen aufgelöst.
Der Schreck läßt sie stolpern, sie schlägt sich an der obersten Stufe der Treppe das Knie auf, bringt sich atemlos hinter einer halboffenen Tür in Sicherheit.
Fünf braun gestrichene Türen. Ein angelaufenes metallenes Waschbecken am Ende des Flurs, eine einen Spalt offene Tür zu einem Stehklo, der Metallstift der Wasserspülung klemmt, ein gebogenes Ausrufungszeichen. Die Luft in dem engen Flur ist schwer von warmem Staub, Naphtalin und Urin.
Mit pochenden Schläfen steht sie im Dämmerlicht des Dachfensters. Sie horcht angespannt in die Stille, kann aber keine menschlichen Geräusche hören, nur das Rauschen in den Rohren, die entlang der Flurdecke verlaufen, das Fallen des Wassers in einem Abfluß ein Stück entfernt.
Ein dunkelbrauner Schmetterling fliegt irgendwo aus den Schatten herauf, flattert samten vor ihrem Gesicht dahin und läßt sich still auf einem Türpfosten nieder.
»Yann.«
Ihre flüsternde Stimme ist rauh, sie räuspert sich, versucht es noch einmal.
Irgendwo hinter einer Tür knackt eine Bodendiele. Dann steht er da, eine Silhouette vor dem Licht aus dem Zimmerfenster, sie sieht die kleinen Härchen auf seinen Schultern in dem kräftigen Gegenlicht, goldene Daunen auf einer Frucht, und sie will ihn berühren, kann es aber nicht.
Stumm läßt er sie an sich vorbeigehen, ins Zimmer, schließt sorgfältig die Tür hinter ihr. Dreht ihr den Rücken zu, um ein Handtuch von einem Metallständer neben dem Waschbecken in der Zimmerecke zu nehmen. Sie starrt ihn wortlos an, sieht die Rasierutensilien auf dem Bord, die weißen Schaumspritzer auf dem Spiegel.
Hinter der Tür bleibt sie stehen und sieht, wie er sich das Gesicht abtrocknet, ein weißes Hemd von einer Stuhllehne nimmt, ihrem Blick ausweicht. Sie folgt ihm mit den Augen, während er sich die schwarze Schleife vor dem Spiegel umbindet, die Schaumspritzer mit dem Handrücken wegwischt. Seine Bewegungen sind abgemessen, energisch, ein Mann, der sich auf die entscheidende Schlacht vorbereitet und keine Kräfte verschwenden will. Ein fremder Mann, der ihr den Rücken zuwendet, seinen Gürtel öffnet, um das Hemd hineinzustopfen, es gerade zieht, sich aufrichtet und das Hemd mit mechanischen Bewegungen zuknöpft, sich wappnet.
Die Worte sammeln sich zu Sätzen in ihrem Mund, aber die Zunge klebt ihr am Gaumen, und sie ist stumm, außerstande, die Formel zu finden, die ihn wieder in Yann verwandelt, und sie kann es nicht in diesem Zimmer mit einem Fremden aushalten.
Die Tränen blenden sie, als sie stolpernd auf den Flur läuft, da hört sie seine Stimme hinter sich.
»Nanna.« Die Stimme klingt belegt, als hätte er seit vielen Tagen nicht mehr gesprochen. »Ich wäre gekommen.«
Er zieht sie wieder zu sich ins Zimmer, auf das ungemachte Bett.
»Ich wäre gekommen«, wiederholt er.
Auf seiner Oberlippe zeichnen sich Schweißtropfen ab, ein Blutstropfen an seiner Wange ist fast getrocknet, sie reibt ihn mit einem Finger weg.
»Sie hat nein gesagt.« Die Knöchel in ihren Händen schmerzen unter seinem Druck. »Ich bin alt genug, sie muß mir keine Erlaubnis geben, aber du verstehst nicht, was das bedeutet, meine Mutter und ich.«
Ein anderer hat die Entscheidung für sie getroffen, vielleicht ist das trotz allem das beste.
»Mein Vater«, sagt sie, will damit trösten, »der weiß nicht mal, daß es dich gibt.«
Sie spürt, wie er erstarrt, ihre Hände losläßt.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich wollte es ihm sagen. Später.«
»Später?