Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen
Szene mit dem Hund mit angesehen hat. Wenn sie dadurch gewissen Repressalien entgeht, spielt sie gern die Rolle, die ihr Vater ihr zuweist: die Verbündete gegenüber der immerwährenden Bevormundung durch die Stiefmutter. Sie kann mit jedem Tag besser mit den Rollen umgehen. Ob das gut oder schlecht ist, weiß sie nicht, sie weiß nur, daß es notwendig ist.
Zögerlich nippt sie an dem knochentrockenen Sherry, unsicher, wie ihre veränderten Geschmacksnerven reagieren werden. Aber zum Glück schmeckt der Sherry, wie er schmecken soll.
»Einige Frauen können keine Krankheiten ertragen. Physische Schwäche macht sie gluckig«, fährt Vater in dem munteren Konversationston fort, den er in Gesellschaft gern anwendet, »vor allem solche, die keine Kinder haben.«
»Aber das ist doch nur Fürsorge.« Vorsichtig schlägt Nanna einen nachsichtigen Ton an. Eine gewisse Verteidigung der Stiefmutter gehört in ihr gewohntes Muster. Eine allzu offensichtliche Verachtung kann nach hinten losgehen, das weiß sie aus Erfahrung.
»Du solltest sie nur hören.« Vater gluckst wie eine Henne, äfft die Stimme der Stiefmutter nach, ihren charakteristischen leicht fettigen, belegten Klang. »Poul, du darfst keine Butter essen, nein, auch nicht auf den Brötchen, sieh doch, hier, diese herrliche Diätmargarine, sieh doch, Poulchen, ich esse sie auch, hm, richtig lecker.«
Nanna kann nicht anders, sie muß lachen. Vaters Nachahmung der Stiefmutter trifft präzise und bösartig.
»Pst, da kommt sie.« Vater hat sich vor den Kamin gestellt, das Whiskyglas auf dem Rücken. Die klappernden Absätze der Stiefmutter nähern sich über das Parkett des Eßzimmers, kurz darauf steht sie in der Tür. Nanna unterdrückt ein Kichern, setzt eine neutrale Miene auf.
»Kann ich bei irgend etwas helfen?« fragt sie höflich, aber die Stiefmutter schüttelt den Kopf.
»Ich wollte nur ein bißchen Madeira für die Soße holen«, erklärt sie, »Doktor Schmidt hat das Rezept erlaubt«, fügt sie hinzu und winkt verkrampft schelmisch mit der grünen Flasche. »Macht ihr es euch nur gemütlich.«
Als die Stiefmutter wieder verschwunden ist, verzieht Vater das Gesicht.
»Kannst du dir vorstellen, daß es nur mit uns beiden manchmal reichlich anstrengend ist?« Er hebt sein Glas. »Es wird schön, wenn du wieder zu Hause bist.«
Nanna nimmt einen Schluck von ihrem Sherry, trifft Vaters Blick über den Glasrand.
»Ich wollte dich eigentlich etwas fragen«, sagt sie und merkt, wie sie unter Vaters Blick aus dem Konzept kommt.
»Und was?« Vaters graue Augen haben plötzlich den alten Stahlschimmer. Diesem Blick hat sie nie etwas verbergen können.
Jetzt gebe ich klein bei, dieser Gedanke durchzuckt Nanna, ich krieche wie ein Hund.
»Ich möchte so gern zurück nach Paris«, sagt sie und hört, wie ihre Stimme einen kindlichen Ton annimmt, sie erschaudert vor Ekel über die Rolle, in die sie widerstandslos hineinrutscht, aber jetzt ist das zumindest gesagt.
Vater stellt sein leeres Glas auf den Tisch.
»Ach ja?« sagt er. Nanna erkennt den kühlen Klang wieder aus der Zeit, als sie ihm zuhörte, wie er in einem Gerichtssaal Prozesse führte.
»Ich könnte mich dort auf mein Studium vorbereiten.«
Sie horcht selbst dieser Lüge nach, wundert sich, daß sie ihr so leichtfällt. Früher hätte sie gleich aufgegeben, hätte viel zuviel Angst gehabt, entlarvt zu werden, um auch nur einen Versuch zu starten.
»Welches Studium?«
»Ich dachte, ich könnte Vorlesungen in internationalem Recht besuchen.« Nanna hört, daß sie atemlos ist, und sie wünscht, sie könnte sich selbst stoppen, fährt aber unter Vaters unerbittlichem Blick fort. »Du hast doch selbst gesagt, daß das immer wichtiger wird.«
»Gibt es einen besonderen Grund dafür, daß das in Paris vor sich gehen soll?«
Der Schweiß erscheint auf Nannas Oberlippe. Ich sollte jetzt einfach aufstehen, denkt sie. Mich von diesem Sofa erheben, auf dem ich während meiner ganzen Kindheit jeden Nachmittag gesessen und Tee mit der Frau getrunken habe, die du geliebt hast und die mich nicht liebte, aufstehen und mich für die Gastfreundschaft bedanken, es war sehr nett, aber jetzt muß ich leider gehen. Mich für mein bisheriges Leben bedanken, aber jetzt muß ich leider weiter.
Statt dessen sagt sie:
»Ich möchte auch gern mein Französisch verbessern.«
»Und das hat nicht zufällig etwas mit einem gewissen jungen Mann zu tun? Bodil«, Vater nickt in Richtung Küche, »hat mir erzählt, daß es so aussieht, als wärest du ernsthaft verliebt.«
Vaters letztes Wort ist von ironischen Anführungszeichen eingekleidet.
»Nicht nur deshalb.«
Sie hat schon zuviel gesagt. Vaters Stirn legt sich in sarkastische Falten, sie kennt das nur zu gut.
»Ach, das ist nicht nur deshalb? Na, das ist ja beruhigend zu hören. Ich hätte auch einige Probleme damit, dich mir als Hotelmadame irgendwo weit draußen auf dem Kuhland vorzustellen.«
Niemand kann Nanna so treffend verletzen wie ihr Vater. Niemand konnte wie er mit einer genau abgewogenen Bemerkung diejenigen ihrer Freunde abschieben, die er aus irgendeinem Grund als unpassend ansah. Eine hochgezogene Augenbraue, ein Zungenschnalzen, und einer nach dem anderen wurde auf seinen Platz verwiesen, von der Liste der Menschen gestrichen, die der Mühe wert waren, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Sie mag gar nicht daran denken, wie er auf Yann reagieren würde, dessen warme Hände und ernste Augen in jeder Sekunde des Tages bei ihr sind, in all ihren Träumen, den wachen wie denen im Schlaf. Sie zieht ihre Schultern bis zu den Ohren hoch und hofft, daß Vater seine Genugtuung haben wird, wenn sie den Kampf nicht aufnimmt.
»Bestimmt ist er auch noch katholisch?« Vater macht weiter, seine physische Schwäche macht es notwendiger denn je, daß seine verbalen Treffer exakt einschlagen. »Und plant im Namen des Herrn eine ganze Kinderschar?«
»Er geht nicht in die Kirche«, flüstert Nanna in ihre Bluse hinein und bereut sofort, daß sie überhaupt den Mund geöffnet hat.
»Folgt aber den Regeln des Papstes, ist es das, was du damit sagen willst?«
Eine Träne tropft von Nannas Nasenspitze, wird auf dem hellblauen Popeline ihrer Hemdbluse zu einem dunklen Fleck.
»Vielleicht sollte ich dankbar sein, daß das Unglück nicht schon geschehen ist«, sagt Vater.
Er sieht sonderbar gut gelaunt aus, das Müde, Eingefallene ist etwas Zielgerichtetem gewichen, etwas, das zu seiner alter Streitbarkeit gehört, immer gleich elegant, immer gleich gefürchtet von Freunden wie von Feinden.
Nanna ist dankbar, als die füllige Figur der Stiefmutter in der Tür zum Eßzimmer auftaucht.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Die braunen Augen der Stiefmutter leuchten neugierig beim Anblick von Nanna, die sich die Augen mit dem Handrücken trockenwischt. »Das Essen kann noch warten, wenn ihr gerade in einer Diskussion seid.«
»Sind wir in einer Diskussion, Nanna?« Vater ist bereits halb aufgestanden. Er nimmt sein Glas vom Tisch und wedelt damit vor den Augen der Stiefmutter. »Nur einen Fingerbreit«, sagt er. »Dafür verzichte ich gern auf die Madeirasoße.«
Nanna ist aufgestanden, sie steht hinter dem Sofa, ihre Beine zittern, als wäre sie hinter einem Bus hergelaufen und hätte ihn nicht mehr erreicht.
»In unserer Familie können wir auf die Soße verzichten, wenn wir es müssen.« Vater hat sein Glas abgestellt, schiebt seiner Tochter einen Arm unter den Ellbogen. »Stimmt’s, Nanna?«
Das Tomatengelee zittert auf dem Silberteller in der Hand der Stiefmutter.
»Ich habe eine Vorspeise gemacht, das bist du doch gewohnt, oder? Ich erinnere mich noch, als wir in Paris waren, da haben wir immer eine Vorspeise gekriegt,