Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1. Anny von Panhuys

Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys


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Kind hatte keine Lebenskraft, man musste ständig befürchten, das Herzchen würde streiken.

      Still und langsam verblühte sie, wie ein Pflänzchen, das in trockener harter Erde nicht Tau noch Regen erquickt.

      Das Kind war unlustig zu allem.

      Eines Frühnachmittags, als Karola mit ihrem Manne und dem Doktor oben in dem als Wohnzimmer benutzten Raum beisammen war, während Trautchen unter der Obhut Hedwig Ritters in einer schattigen Ecke des kleinen Villengärtchens in einem Liegestuhl lag, schlug Karola vor, nun endlich einen Spezialarzt zu befragen.

      „Gnädige Frau, verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich würde das Urteil eines Kollegen hier längst angerufen haben, wenn mich nicht Feigheit davon zurückhielte.“ Er zuckte die Achseln. „Ich klammere mich krampfhaft an die Hoffnung, es könnte noch ein Wunder geschehen, während diese Hoffnung mit einem Schlage zunichte würde, wenn ein Kollege objektiv spricht. So aber haben wir drei doch noch eine kleine Galgenfrist. Denn ganz abgesehen von allem Kummer um das Kind haben Sie beide genau solche Angst, Herrn Overmans mit einer Hiobsbotschaft zu kommen, wie ich.“

      „Sie meinen, es gibt für Trautchen wirklich keine —“ begann Karola stockend und ihre feinen Hände strichen nervös über das goldbraune Kleid mit den Randstickereien aus hellgrüner Seide.

      Günter umfasste die schmale Gestalt der geliebten Frau mit langem Mitleidsblick.

      „Rege dich, bitte, nicht so sehr auf, mein Herz, Unentrinnbarem muss man gefasst entgegengehen.“

      Ihre Augen weitete die Angst.

      Verstört setzte sie noch einmal an:

      „Sie meinen, es gibt für Trautchen wirklich keine Rettung?“

      Sie wollte weitersprechen, aber die Zunge gehorchte ihr nicht mehr.

      Er antwortete zögernd: „Nein, gnädige Frau, ich glaube, wir dürfen uns in bezug auf das Kind keinen Illusionen mehr hingeben, ich verspreche mir für Trautchen keine Rettung mehr. Sie ist viel zu schwach, zu matt, zu lebensunfähig. So furchtbar das an und für sich ist, meine ich doch, wir dürfen darüber nicht vergessen, Kriegsrat zu halten, auf welche Weise wir es Herrn Lamprecht Overmans beibringen. Denn er wird es wohl bald erfahren müssen.“

      Karola sass regungslos und totenblass in ihrem Stuhl und dachte verworren, nun hatte doch wenigstens einer von ihnen dreien den Mut aufgebracht, das laut zu sagen, was sie alle gewusst und was sie alle dumpf und unheimlich belastet.

      Wie abwesend flüsterte sie vor sich hin: „Trautchen wird sterben müssen, ich trage die Schuld, weil es so schwächlich ist und sterben muss. Wie entsetzlich schuldig bin ich doch.“

      Die beiden Männer wechselten einen stummen Blick und jeder las in den Augen des anderen grenzenloses Mitleid mit der armen Mutter.

      Günter Overmans erhob sich und nahm Karolas Hände zärtlich in die seinen.

      „Armes kleines Frauchen, das Schicksal ist grausam zu dir und mir. Doppelt fest wollen wir fortan zusammenhalten, doppelt stark uns lieb haben, wenn wir unser Liebstes verlieren müssen.“

      Karola hob jetzt erst den Blick.

      Irr und unruhig flackerte er in den des Mannes.

      „Rede nicht davon, dass wir Trautchen verlieren müssen, ich will es nicht hören. Denn es kann nicht wahr sein, was Dr. Frank sagt, ich glaube es einfach nicht und will es nicht glauben.“

      Sie schob die zärtlichen Gattenhände zurück mit beinahe heftiger Bewegung und sprang so schroff auf, dass der Stuhl hinter ihr umfiel, ohne dass sie es beachtete.

      Mit einem Satz stand sie mitten im Zimmer und mit leidenschaftlich gerötetem Gesicht rief sie den beiden Männern zu: „Ich dulde es nicht, dass mein Kind stirbt, es muss sich ein Mittel finden lassen, ihm zu helfen, es gesund zu machen. Tausende, ja Millionen von Menschen werden wieder gesund und viele sind darunter, die ruhig fortkönnten, die niemand vermissen würde, durch deren Tod keine Lücke entstände. Trautchen aber ist nötig, sie muss bei uns bleiben. Ich lasse sie nicht sterben, ich habe sie doch über alles lieb. Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren.“ Sie warf die Arme hoch und lachte. Ein splitternd kaltes, befremdendes, unheimliches Lachen. „Dr. Frank, sorgen Sie nur gleich rechtzeitig für die Irrenhauszelle, in die man mich wird bringen müssen, wenn Trautchen stirbt!“

      Günter Overmans bat tieferschüttert: „Bitte, gib dich nicht solchen Gedanken hin, mein Lieb, und glaube nur, Dr. Frank kann nichts, gar nichts dafür, wenn es anders kommt, wie wir sehr innig hofften. Er ist selbst sehr traurig darüber, uns nun keine Hoffnung mehr geben zu können.“

      Die schmale zierliche Frau verzog die Lippen mit unendlicher Bitternis.

      „So, meinst du, er sei darüber besonders traurig? Nein, Günter, ich glaube das nicht, ihm ist es im Grunde wohl ziemlich gleichgültig.“

      Just Frank machte eine ablehnende Kopfbewegung und seine Stimme klang heiser vor Erregung, als er mit mühsamer Beherrschung sagte: „Nein, gnädige Frau, Sie verkennen mich vollständig. Ein Arzt ist kein Gott und vermag keine Wunder zu tun, immer und immer wieder werden ihm Menschen sterben, die er so heilig gern retten möchte. Und in unserem besonderen Fall bitte ich Sie, mir zu glauben, wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, meine kleine Patientin Trautchen ist auch mir ans Herz gewachsen und ich leide mit Ihnen und Ihrem Gatten. Ich leide noch besonders, weil ich mir gerade hier in diesen letzten Wochen so recht meiner Machtlosigkeit bewusst geworden bin.“

      Dann sagte er ruhiger und doch noch mit einem leichten Nachhall der Erregung: „Gnädige Frau, Ihr Schmerz ist unbestreitbar der grösste und wird es bleiben, denn Sie sind die Mutter. Mutterliebe und Mutterschmerz lassen sich nicht überbieten! Aber ganz abgesehen von meiner persönlichen Zuneigung zu dem hübschen, liebenswerten Kind steht auch sonst noch sehr viel für mich auf dem Spiele, wenn Trautchen stirbt. Sie wissen, durch Zufall kam ich dazu, den vermögenden, einflussreichen Mann in seiner Krankheit zu behandeln, mir sein gewiss nicht leicht zu erringendes Vertrauen zu erwerben. Ich hatte meine ganze Hoffnung darauf gesetzt, durch ihn aus dem Elend des Anfängerarztes bald herauszukommen. „Der Traum von der guten, grossen Praxis dürfte wohl für mich ausgeträumt sein, wenn Trautchen stirbt. Ich höre Ihren rücksichtslosen Schwiegervater, der ein Selfmademan in des Wortes wahrster Bedeutung ist, und der immer tut und sagt, was ihm passt, schon mit erschreckender Deutlichkeit, wie er mich Pfuscher und Scharlatan nennt.“

      Er pumpte den Atem tief aus den Lungen herauf.

      „Sehen Sie, gnädige Frau, so sieht es jetzt in mir aus. Hinzufügen möchte ich noch, ich habe vor dem Wiedersehen mit Lamprecht Overmans eine heidenmässige, unglaubliche Angst!“

      Karola starrte ihn wie benommen an und stammelte: „Daran habe ich jetzt zuletzt am allerwenigsten gedacht und es ist doch wohl das Allerschlimmste und bleibt es!“

      Man sah deutlich, wie sie erschauerte.

      Im nächsten Augenblick hielt sie Günter in den Armen.

      „Ich werde dich zu schützen wissen, denn gerade genug hat mein Vater dir schon angetan. Wenn er deinem Schmerz auch noch roh begegnen würde, wäre das Mass übervoll. Du hast mich bisher immer davon zurückgehalten, ihm so offen die Meinung zu sagen, wie ich es längst gern getan hätte.“

      „Wir hängen doch aber so sehr von ihm ab, Günter,“ wehrte sie sich. „Und wenn Trautchen gesund würde, käme bestimmt vieles anders.“

      Sie entzog sich den Armen ihres Mannes.

      „Doktor, lieber, guter Doktor, verzeihen Sie mir das Unrecht, das ich Ihnen vorhin in meiner grenzenlosen Erregung angetan, ich war ja unzurechnungsfähig. Bitte, seien Sie mir nicht böse und retten Sie mein Kind!“

      „Wenn ich das könnte, würde ich es bestimmt tun,“ entgegnete er traurig, „ich habe Ihnen doch ganz klar und deutlich von meiner Machtlosigkeit gesprochen.“

      „Ja, ja,“ stiess sie hastig hervor, „aber was Ihnen nicht möglich ist, wird vielleicht einer ärztlichen Kapazität möglich


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