Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1. Anny von Panhuys

Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys


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der ihr Herz wundstach. Sie vermochte im Augenblick nicht zu antworten, ihr Mann tat es an ihrer Stelle.

      „Unser einziges Kind, ein Mädelchen wie dieses im Alter, und ihm ähnlich fast wie eine Zwillingsschwester, ist schwach und leidend, ohne direkt krank zu sein, siecht es von Tag zu Tag mehr dahin und der Arzt gibt keine Hoffnung mehr.“

      Der Fremde vermied jedes zudringliche Trostwort.

      Er ehrte die Mitteilung durch längeres Schweigen, bewies dadurch, er besass Herzenstakt.

      Die Kleine reichte Karola den Ball.

      „Darfst ihn tragen, meinen Balli, und ich will dir’s Händli geben, du gefällst mir.“

      Karola musste unwillkürlich über die niedliche Kleine lachen, und für kurze Zeit dämmte das drollige Geplauder des Kindes ihren Schmerz ein.

      Der Fremde plauderte: „Das Kind gehört einer Nichte meiner Frau, die vor kurzem gestorben ist und nichts hinterliess als ein Dorfhäuschen, das gestern versteigert wurde. Meine Frau stammt aus der hiesigen Gegend, und weil sie gar zu gern wieder einmal Heimatsluft atmen wollte, reisten wir auf einen Jammerbrief ihrer Nichte hierher. Sie wollte uns vor dem Sterben ihr Kind übergeben, sie war schwer herzkrank. Ihr Mann verunglückte im vorigen Jahr in den Bergen.“ Er wies in einer bestimmten Richtung. „In der Nähe vom Hochfirst, bei einem fürchterlichen Gewitter.“

      Er warf einen mitleidigen Blick auf das Kind.

      „Das Würmchen ahnt noch nicht, wieviel es verloren hat, es meint, seine Mutter sei nur für ein Weilchen zum lieben Gott gegangen, um den Vater zu besuchen, aber da meine Frau und ich uns bemühen, seine kindliche Phantasie zu beschäftigen, wird ihm anscheinend die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter gar nicht lang.“

      Er seufzte: „Die kleine Babette kann ja nichts dafür, aber Sie dürfen mir glauben, für uns bedeutet das Kind eine riesige Last. Man ist nicht mehr jung und elastisch genug für so ein Menschlein, und eigene Kinder haben meine Frau und ich nicht gehabt. Wir schwanken immer noch, ob wir die Kleine nicht ins Waisenhaus stecken sollen, denn ganz davon abgesehen, dass einem so eine Kleine mancherlei Last und Umstände macht, denkt man schon daran, was soll aus dem Kinde werden, falls einem etwas zustösst. Ich bin sechzig, meine Frau ist nicht jünger. Und dann hat man das Wurm ins Ausland geschleppt.“

      Günter sah ihn fragend an.

      Der Fremde lächelte ein wenig.

      „Ach ja, Sie wissen ja weiter gar nichts von mir als das, was Sie eben hörten. Meine Frau und ich waren durch lange Jahre hindurch ein beliebtes und sehr gutbezahltes, gefeiertes Tanzduett, Ueber alle grossen Varietébühnen des Kontinents und vieler überseeischer Länder sprangen und hüpften wir, bis —“ Er lachte kurz auf. Es klang unfroh und fuhr fort: „Bis wir zu alt wurden für diese erstklassigen Etablissements. Die Varietés zweiten Ranges kamen an die Reihe und die dritten Ranges. Zum Schluss krebsten wir durch Singspielhallen niedrigster Ordnung, bis uns unser Selbstbewusstsein schliesslich ein energisches Halt zurief. Gerade in London kamen wir auf die Idee, unser Können für Unterrichtszwecke zu verwenden, und auf diese Weise bringen wir uns seitdem dort ganz gut durch. Wir unterrichten im Gesellschaftstanz, aber bilden ebenso für die Bühne aus. Einige Spargroschen liegen auch schon auf der hohen Kante, aber so ein Kind bedeutet eine erhebliche Störung. Wenn es wenigstens ein paar Jahre älter wäre! Meine Frau stösst sich nur an das Versprechen, das sie der Nichte gegeben, gut für das Kind zu sorgen, sonst hätte ich schon Umschau gehalten, wo es unterzubringen wäre. Auch ist’s ein allerliebstes Ding und tut einem leid. In kurzer Zeit werden wir abreisen und müssen es wohl schliesslich mitnehmen. Wir fühlen uns hier im allgemeinen doch nicht so wohl, wie wir hofften und allzu lange darf unsereins auch keine Ferien machen.“

      Beim Plaudern war er gemächlich neben seinen Zufallsbekannten hergegangen, nun aber verhielt er den Schritt.

      „Jetzt sage der Dame ein schönes ‚Grüss Gott‘ zum Abschied, Babette, nun müssen wir unseren Weg allein fortsetzen. Wir wohnen nämlich ganz abseits und wollen hier links einbiegen,“ wandte er sich an das Ehepaar. „Uebrigens mein Name ist Brown, früher, ehe wir uns naturalisieren liessen, wurde er zwar genau so ausgesprochen, doch ‚Braun‘ geschrieben. Ein häufig vorkommender Name ist’s, dort in England ebenso wie hier. Ich stamme aus der Ulmer Gegend, aber nun lebt niemand mehr dort.“

      Karola neigte sich zu dem Kinde nieder.

      „Gott segne deine Zukunft im fremden Lande, kleine liebe Babette!“

      Als das volle rosige Gesichtchen dem ihren ganz nahe war, konnte sie nicht widerstehen, sie küsste die Kleine und ein paar heisse Tränen fielen auf die Wange des Kindes nieder.

      Die Kleine zwitscherte verweisend: „Du darfst doch nit immer gleich heulen!“

      Der alte Tänzer nahm schnell das Kind bei der Hand und zog es mit sich fort in den Seitenpfad.

      „Komm, Babettchen, die Grosstante wartet auf uns.“

      Er hatte bemerkt, wie fassungslos die schöne junge Frau war, weil sie wahrscheinlich wieder an ihr krankes Kind dachte, und er wollte ihr schnellstens den Anblick der Kleinen entziehen, damit sich die Aermste nicht weiter mit Vergleichen abquälte.

      Karola aber schaute dem Mädelchen noch lange nach, das ein paarmal den Kopf wandte und Kusshändchen warf.

      Sie sass dann wieder neben ihrem Manne im Auto und nach langem Schweigen, währenddessen beide ihren Gedanken nachhingen, sagte Karola voll Bitternis: „Weshalb ist nur alles so ungerecht verteilt auf der Welt? Die kleine Waise ist so übergesund, dass sie davon abgeben könnte, und unser Trautchen läuft wie ein Gespenstchen umher, wird täglich kraftloser, löst sich förmlich auf. Wir würden doch wer weiss was dafür geben, wenn unser Kind gesund wäre, und dieses andere Kind bedeutet für die Menschen, bei denen es leben soll, eigentlich nur eine Last. Wäre es da nicht gerechter, so ein Waisenkind, dem niemand besonders wohl will, wäre krank und stürbe, anstatt dass Trautchen vielleicht gehen muss, die so unendlich viel für uns bedeutet?“

      Ihr Mann schüttelte abwehrend den Kopf.

      „Solche Vergleiche passen nicht zu deinem guten Wesen und deiner anständigen Gesinnung.“

      Karola verkrampfte die Hände ineinander.

      „Du bist ein Mann und empfindest manches anders wie ich. Aber es hat ja auch keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Die kleine Babette besitzt in Ueberfülle, was unserm Trautchen fehlt, besitzt alles, was unser Liebling entbehren muss. Ach, Günter, es war so eigen, so überwältigend, als ich vorhin plötzlich das Mädelchen vor mir sah mit Trautchens Augen und Haar, mit ihrem Mund und Näschen, mit ihren Bewegungen. Es war, als stände Trautchen leibhaftig vor mir, aber als völlig Gesunde. Ich beneide das alte Paar, das sich seines grossen Glückes gar nicht bewusst ist, und mein Herz tut doppelt weh, wenn ich mir nun Trautchen vorstelle.“

      Nach einem Weilchen begann sie wieder:

      „Wenn sich Trautchen, wie wir gehofft, hier erholt und so dicke rote Bäckchen bekommen hätte wie das Waisenkind, brauchte mir nicht vor der Heimreise bangen.“

      Günter Overmans sann traurig darüber nach, dass die Begegnung mit der kleinen Babette seine ohnehin schon so erregte Frau völlig durcheinandergebracht hatte.

      Die Autofahrt nach Schluchsee, von der er sich ein Ruhigerwerden Karolas versprochen, wäre besser unterblieben.

      Zu Hause erzählte dann Karola dem Doktor sehr lebhaft und mit zitternder Stimme von der Begegnung, betonte immer wieder die auffallende Aehnlichkeit zwischen den Kindern, machte Just Frank schliesslich neugierig.

      Ihn interessierte die so übergesunde kleine Doppelgängerin Trautchens ebenfalls ausserordentlich.

      5. Kapitel.

      Heinrich Braun, oder wie er sich seit seiner Naturalisation nannte, Harry Brown, sass an einem wundervollen Sommerabend vor der Tür des kleinen, mit einem Staketenzaun umgebenen Häuschens, das die Nichte seiner Frau hinterlassen, und atmete tief die reine Bergluft ein, in die harziger Tannenduft verwoben


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