Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen Perkins
Zwischenzeit in ein normales Krankenzimmer verlegt worden. Ihr Zustand hatte sich weiter verbessert, doch sie musste noch immer ein Korsett tragen, das ihre Rippen stabilisierte, und die meiste Zeit liegen.
Als die beiden jungen Männer auf ihr Krankenzimmer zusteuerten, kam ihnen Dr. Norden entgegen, der gerade nach der Patientin gesehen hatte.
Der Chefarzt der Behnisch-Klinik begrüßte Mark Hansen freundlich und drückte auch dessen Begleiter die Hand, nachdem Mark die beiden miteinander bekannt gemacht hatte. Dann wollte er wissen, wie es seiner Schwester gehe.
»Sie erholt sich allmählich, jedenfalls rein körperlich. Noch maximal zwei Wochen, dann kann sie in die Reha gehen. Was ihre seelischen Wunden angeht, bin ich allerdings nicht ganz so optimistisch. Auch wenn sie sich große Mühe gibt, sich nichts anmerken zu lassen.«
Mark wunderte sich über diese scharfsinnige Bemerkung. Dr. Norden schien ein Mann zu sein, der hinter die Fassade blickte und sich um den ganzen Menschen kümmerte, nicht nur um den fachmedizinischen Fall. Deshalb kam ihm eine Idee.
»Haben Sie kurz Zeit, Herr Doktor? Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen.«
Dr. Norden hatte nichts dagegen. »Sicher, gehen wir in mein Büro«, schlug er vor.
»Komm bitte auch mit, Simon. Was ich mit Dr. Norden bereden möchte, geht dich ebenfalls an.«
Also folgte der junge Anwalt den beiden unterschiedlichen Männern zum Büro des Klinikchefs.
Katja Baumann, Dr. Nordens Assistentin, brachte frischen Kaffee und schloss dann die Tür hinter sich, damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten.
»Meine Schwester war immer ein lebenslustiger und sehr positiver Mensch«, erzählte Mark. »Nach dem Tod ihres ersten Mannes ging es ihr aber lange schlecht. Sie müssen wissen, dass sie und Rolf schon in der Schule ein Paar waren. Und als er nach nur wenigen Monaten Ehe mit dem Motorrad tödlich verunglückte, stand Lisa mit einem Baby allein da. Natürlich habe ich ihr geholfen, die Eltern auch. Aber das ist nicht dasselbe. Irgendwann wollte sie nur noch weg aus Ulm, weil die Erinnerungen ihr so sehr zusetzten. Sie zog mit Torben nach München und nahm eine Stelle als Sekretärin in Kai Wagners Firma an. Ganz allmählich ging es ihr wieder besser. Und die Heirat mit Kai, die schien ein perfektes Glück zu besiegeln. Sie sagte mal zu mir, dass sie sich nie hätte vorstellen können, wieder glücklich zu sein. Kai hatte dieses Wunder vollbracht. Leider war es aber nicht von Dauer. Schon nach kurzer Zeit verwandelte sich Glück in Unglück. Kai Wagner war ein gewalttätiger Mensch, voller Hass und nicht zu kontrollierender Aggressionen. Lisa erfuhr erst später, dass er schon zweimal verheiratet gewesen war. Beide Frauen hatte er krankenhausreif geprügelt und dann hoch abgefunden, damit sie schwiegen. Meine Schwester hat schrecklich gelitten in dieser Ehe. Dass es nun vorbei ist, dass Kai ihr nichts mehr tun kann, macht es nicht besser. Ich glaube, sie ist wirklich am Ende, innerlich ganz zerbrochen.«
Dr. Norden nickte mit betroffener Miene. »Den Eindruck macht sie auch auf mich. Sie versucht, ihre Gefühle zu verbergen, aber das wird ihr auf Dauer nicht gelingen. Irgendwann wird der psychische Zusammenbruch kommen. Deshalb rate ich, vorher eine Therapie zu beginnen. Sobald Ihre Schwester physisch wieder belastbar ist.«
»Ja, das erscheint mir auch sinnvoll. Aber ich wollte auch noch über etwas anderes sprechen. Es geht um Kai Wagners Erbe.« Er warf Simon einen knappen Blick zu, der daraufhin das Wort ergriff und erläuterte: »Ich habe mich mit dem Nachlassverwalter des Verstorbenen in Verbindung gesetzt. Kai Wagner hatte keine weiteren lebenden Verwandten. Deshalb ist Lisa Alleinerbin. Schlägt sie das Erbe aus, was ziemlich wahrscheinlich ist, fällt es an den Staat.« Der junge Anwalt lächelte schmal. »Das wäre keine wirklich befriedigende Lösung. Mark ist deshalb mit einer Idee zu mir gekommen, die mir ziemlich sinnvoll erscheint.« Er reichte Dr. Norden eine Akte. »Wenn Sie sich das mal ansehen wollen, Herr Doktor. Ich nehme an, Sie kennen sich damit aus.«
»Eine Stiftung, die sich um Opfer häuslicher Gewalt kümmert.« Daniel Norden nickte anerkennend. »Das gefällt mir.«
»Leider habe ich keine Ahnung, wie man so etwas aufzieht«, gab der junge Ingenieur zu. »Ich meine, man braucht nicht nur eine Verwaltung, sondern auch einen medizinischen Stab, wirklich gute Psychologen, vertrauenswürdiges Personal. Und da habe ich an diese Klinik hier gedacht. Was sagen Sie dazu? Wären Sie bereit, mit einer solchen Stiftung zusammen zu arbeiten? Natürlich erst mal unverbindlich, ich muss ja noch mit meiner Schwester darüber reden. Aber aus allem, was sie in den vergangenen Tagen gesagt hat, schließe ich, dass sie bestimmt einverstanden sein wird. Ich meine, es ist doch sinnvoller, das Geld für so einen Zweck auszugeben, als es dem Staat zu schenken, oder?«
Dr. Norden schmunzelte. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, Herr Hansen. Und ich würde vorschlagen, Sie besprechen das ausführlich mit Ihrer Schwester. Wenn sie einverstanden ist, lege ich den Vorschlag unserer Klinikverwaltung vor. Leider geht es nicht ohne Bürokratie. Sie können sicher sein, dass ich Ihre Idee unterstützen werde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einer solchen Zusammenarbeit nichts im Wege steht.«
»Wunderbar! Vielen Dank!« Mark Hansen freute sich ehrlich über die positive Reaktion des Klinikchefs, bewies sie doch, dass seine Idee wirklich gut war. Lisas Meinung war jedoch nicht ganz so eindeutig. Sie hatte noch nicht über das Erbe, das ihr nun zustand, nachgedacht. Im ersten Impuls wollte sie nichts damit zu tun haben, denn sie wünschte sich nur eines: Kai Wagner und alles, was mit ihm in Zusammenhang stand, so schnell wie irgend möglich zu vergessen. Aber Marks Vorschlag erschien ihr sinnvoll und mehr als das. Dass Kais Vermögen Menschen helfen sollte, die in der gleichen schrecklichen Lage wie Lisa gewesen waren, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Doch so weit, darüber Schadenfreude zu empfinden, war sie noch längst nicht.
»Ich denke darüber nach«, versprach sie Mark. »Grundsätzlich finde ich die Idee gut und sinnvoll.«
»Dein Bruder ist eben ein heller Kopf«, merkte Simon an.
Lisa lächelte schwach. Sie fühlte sich sehr müde und zu Tode erschöpft. Seit sie wieder bei Bewusstsein war, befand sie sich in einem beängstigenden Zustand. Sie hatte keine wirklichen Empfindungen mehr, war innerlich wie taub. Nichts drang zu ihr vor. Sie reagierte, sie sprach und schien wieder am Leben teilzunehmen, doch das war nur rein äußerlich. Sie funktionierte.
In ihr drin war nur Dunkelheit. Angst. Böse Erinnerungen. Und wenn sie schlief, dann marschierte Kai wie ein dunkler Wächter durch ihre Träume, begleitet von gebellten Drohungen und dem Knallen einer Peitsche. Oft wachte sie nachts zu Tode erschrocken auf, in Schweiß gebadet und mit jagendem Puls. Dann wünschte sie sich, wenigstens weinen zu können. Aber auch das ging nicht mehr. Innerlich war Lisa Wagner gestorben. Und es schien nichts zu geben, was daran noch etwas ändern konnte.
*
Zwei Wochen später begleitete Mark Hansen seine Schwester zu einer Reha-Klinik, wo sie noch eine ganze Weile behandelt werden sollte. In der Zwischenzeit hatte Lisa der Gründung einer Stiftung zugestimmt, Dr. Norden hatte die Klinikverwaltung überzeugt, sich zukünftig dort zu engagieren. Mark hatte Amelie Gruber gebeten, die medizinische Leitung der Stiftung zu übernehmen, womit sie einverstanden war. Nun gab es für den jungen Ingenieur nur noch eines zu tun: Die Frau seines Herzens endlich an sich zu binden. Und es gab nichts, was ihn davon abhalten konnte. Er arrangierte ein romantisches Abendessen bei Kerzenschein und Champagner und steckte Amelie dann einen zauberhaft schönen Verlobungsring an den Finger.
Während das junge Paar einander genug war und sein neues Glück von Herzen genoss, machte sich Simon Berger zunehmend Sorgen um Lisa. Obwohl es ihr rein äußerlich sehr viel besser ging und sie ihr Leben endlich wieder im Griff zu haben schien, stimmte doch etwas nicht, das spürte der sensible junge Mann sehr deutlich.
Erst am Vortag hatte er mit Mark darüber geredet, doch der Freund war momentan mit seinen Gedanken ständig woanders, was ja auch nicht schwer zu verstehen war. Immerhin trug er sich mit Heiratsabsichten.
Simon Berger seufzte. Wie gerne hätte er Lisa seine Gefühle gestanden. Schon so lange hatte er sie gern, doch nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, ihr das zu sagen. Zuerst war da Rolf Schubert gewesen, dann hatte Lisa Ulm verlassen. Und später ihre Heirat mit dieser nach außen hin blendenden