Mythos Mensch. Frank Lisson

Mythos Mensch - Frank Lisson


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sondern sollten uns den neuen Problemen wenigstens stellen und tapfer daran zu arbeiten beginnen! Ja, selbst auf die Gefahr hin, dass wir es hier mit einer Not zu tun haben, die vielleicht keines Anderen Not ist, und wir fürchten müssen, dass einer solchen, gleichsam nachgeborenen Philosophie niemand zuhören wird, weil die nötigen Organe dazu fehlen, da sie entweder bereits abgestorben oder noch nicht gewachsen sind, dürfen wir vor dieser Not, und sei sie, wie letztlich alle echte Philosophie, aus einer bloßen Idiosynkrasie heraus geboren, dennoch nicht kapitulieren. Wer das Naturprinzip Mensch in der übersteigerten Welt des postkulturellen Zeitalters verstehen will, muss noch geduldiger wühlen und noch tiefer graben als alle Wühler und Archäologen des Geistes zuvor. Folglich wird die Einsamkeit derjenigen, die ihr Leben einer solchen Aufgabe opfern, noch viel erdrückender und vollständiger sein als die der Einsamsten des 19. und 20. Jahrhunderts. Und eben das macht die Sache so schwierig und so wenig verlockend, weil das, was heute noch aus den Tiefen des – wie die allgemeine Ansicht lautet – doch bereits bis auf den Grund ausgeschöpften erfahrbaren Menschseins zutage gefördert werden könnte, bedeutungslos sein müsse, da es sonst längst schon gesagt worden wäre. Damit, so heißt es, erübrige sich alles weitere philosophische Forschen über diesen anscheinend allbekannten Gegenstand; und deshalb habe man sich an die ewige Wiederholung derjenigen ethischen Kenntnisse zu gewöhnen, über die wir in der Beurteilung unserer Art einig geworden sind: so lasse man also endlich davon ab, Fragen zu stellen, auf die es keine für uns als Gattung befriedigenden Antworten geben könne… Vielmehr glaubt jeder tatsächlich bereits für sich zu wissen, was der Mensch sei – oder hat gar kein tieferes Interesse an dieser Thematik.

      Das große Erzählen. – Der Mensch will und muss sich in seinen eigenen Geschichten beheimaten, weil ihm außerhalb seiner Geschichten innerhalb der Natur keine Heimat zur Verfügung steht. Er muss sich das Haus selber bauen, in das er einziehen will, denn kein Instinkt verschafft ihm eine solche Unterkunft. – Deshalb wurden Menschen Mythologen und die Geschichten ihrer kulturellen Einrichtungen zu Mythologien. Denn die Welt war für den Menschen nie etwas anderes als die Bühne seiner Selbstdarstellungen: jeder erzählt seine Geschichte, und diejenigen Geschichten, welche die meisten Anhänger finden, weil sie die menschlichsten Geschichten sind, setzen sich durch. In allem, was irgendwo gesprochen wird oder geschrieben steht, erzählt der Mensch also seine ganz persönliche Geschichte – und ist sich zugleich der einzige Zuhörer. Über den Mythos erfand er sich lauter Formen eines Alter ego, um sich selber für seinesgleichen interessanter zu machen, also um eine auch metaphysische Balz aufführen zu können, und ferner, um sich mit unerreichbar »höherer« Gesellschaft zu umgeben, der man freudig dienen könne, ohne sich dabei als Knecht fühlen zu müssen. Gott war immer Ausdruck mangelnder Selbstgenügsamkeit sowie der Freude am Fabulieren und Phantasieren eines dichtenden Tieres. So besteht die Geschichte des Menschen buchstäblich aus den Geschichten der Menschen. Schöne und große Worte machen gehört bis heute zu den prominentesten Qualitäten des Menschseins. Und nachdem die großen Erzählungen als kanonisierte Orientierungsangebote ihr Verbindliches verloren haben, erzählt wieder jeder jedem seine eigene Geschichte. Das poetologische Vakuum, das nach den Kulturen entstanden ist, bietet allerhand Raum dazu. Die alten Autoritäten, von Homer bis zur Bibel, entfalten nach einer über zweitausend Jahre zählenden Herrschaftsgeschichte in Europa endlich nur noch museale Kräfte. Von nun an ist jeder aufgefordert, sich die Welt erneut selber zu erzählen, und sei es, dass er die Exegese des bereits Gesagten ins Unendliche vermehrt. Wo sich die strukturbildenden Versuche, allgemeingültige Mythen zu erschaffen, auf Dauer als unzureichend erwiesen haben, fällt der Mensch ins Beliebige seiner ganz persönlichen Erzählweisen und Bedürfnismitteilungen zurück. Die Welt scheint wieder offen zu liegen für die Deutungsvorschläge jedes einzelnen, der phantasiebegabt genug ist, sich daran zu beteiligen. Es beginnt ein neues Rennen um die menschlichsten Geschichten: wer weiß sich selber am wirksamsten und überzeugendsten zu erzählen, so dass ihm viele oder sogar die meisten zuhören…? Wer weiß am genauesten, was die Generationen freigesetzter Ich-Erzähler hören wollen…? Wer liefert die besten Schlüsselwörter, Zustandsbeschreibungen, Modemetaphern, um sich als großer Gegenwartsmythologe zu profilieren…? Lauter Fragen, deren Beantwortung erklären würde, warum die Flut des bereits Erzählten längst über die Ufer des Fassbaren und Sinnvollen getreten ist, ohne dass im Geistesland der Überschwemmten je der Katastrophennotstand ausgerufen worden wäre. »One day baby, we’ll be old / Oh baby, we’ll be old /And think of all the stories that we could have told.«2 – Also lautet der Wunsch des letzten Perfektionisten: die eine Geschichte erzählen, die alles enthält!

      Isoliert. – Jeder Mensch ist sich selber ein einziger in sich geschlossener Mythos. Und folglich ist er es auch allen anderen. Die Welt stellt sich ihm dar als eine große, alles Mögliche umfassende Erzählung, worin seine Individualität gar nicht vorkommt, weshalb er sich in das große Weltgedicht erst selber hineinerzählen muss – und die Fabeln seiner Schöpfung gleich mit. Aus diesem Grunde gelingt es kaum, jemals wieder hinter das Erzählte, das die Welt für uns abbildet, zurückzusteigen. Durch die Fähigkeit, ja durch den Willen zur Mythologie wurde der Mensch zugleich das Produkt seiner Mythen; eine Verbindung, die sich immer fester knüpfte, je mehr der Mensch in seinen Geschichten vom Menschen aufging. Denn das Erzählen der Welt fängt die Welt nicht ein, sondern bildet sie nur ab – und sieht ihr hinterher.

      Wiederkehr im Unterschied. – Gibt es mit jeder neuen Generation auch wirklich neue Menschen? Oder verändert sich nicht bloß das Verhalten aufgrund veränderter Anforderungen? Der frühe Zweifel an der tatsächlichen Verschiedenheit menschlicher Einzelwesen hat vermutlich zum Glauben an Seelenwanderung geführt. Denn zu allen Zeiten reagierte das menschliche Verhalten auf die Erwartungen seiner Umgebung, spiegelte diese quasi in sich wider, um seiner Zeit ein guter Zeuge zu sein. Somit birgt die Wiederkehr des Gleichen im Unterschied vielleicht das Geheimnis der Vorstellung menschlicher Vielfalt. Was lebt oder stirbt mit einem Menschen, wenn nicht die Wiederholung in Variationen desjenigen evolutionären Musters, das die Gattung kennzeichnet und charakterisiert? Was sind die Vorgänger den Nachfahren? Was also unterscheidet im Wesentlichen die sogenannten Individuen einer Generation von denen einer anderen? – Das sogenannte Individuum ist eine Regung, Empfindung, Seins-Form, die das Vergängliche ihres Trägers begreift, ohne nach dem Tod des einzelnen Mediums als solche aus der Welt zu sein. Die Äußerung findet auch anderswo noch statt, doch das Stoffliche betrauert sein eigenes Vergehen, weil es sich im Menschen nicht als bloßes Medium versteht, sondern seine Lage in der Welt erkennt, wodurch es »mehr« wird als das, was es rein natürlich darstellt. Folglich gibt es keine Individualität, sondern nur Ausdrucksformen bestimmter Typen; jeder gehört einem dieser menschlich möglichen Modelle an, als dessen Vertreter und Darsteller er am Leben ist. Innerhalb dieses Typus mag zwar jeder bis zu einem gewissen Grad individuelle Züge ausbilden, doch reichen diese niemals so weit, dass man als Angehöriger seines Typus nicht mehr zu erkennen wäre. Man selber verkörpert einen einzelnen Menschen, nämlich sich selbst – alle anderen aber verkörpern die Menschheit. So lebt der Mensch im Schatten seiner Beginnlosigkeit, ohne Anfang, denn alles war, bei genauerer Betrachtung, immer schon da, weshalb er sich so gerne Ursprünge setzt, grundlegend »verändern« will, was doch nur abgewandelt werden kann. Jede Geburt ist ein Betrugsversuch am Leben, den erst der Tod wieder bereinigt.

      Kulturelle Vortäuschung von Individualität. – Gäbe es ein rein persönliches Ich, müsste dieses mit seinem Inhaber vollkommen identisch sein. Doch wandeln sich die Urteile über unser Verhalten in uns, und stimmen unsere Handlungen mit unserem Denken oft nicht überein. – Daraus erwächst der Zweifel an der Möglichkeit individuellen Seins und entsteht die bedeutendste aller Fragen: wo wäre ich, wenn es mich nicht gäbe? Wie kann ich das Produkt nur einer einzig möglichen Verbindung sein? Wer wäre statt meiner als ein anderes Ich entstanden, wenn die Umstände meiner Zeugung andere gewesen wären? Lebt der Mensch, oder »menscht« das Leben? Was also macht mich zum Ich, das es unter Milliarden anderer Iche nur ein einziges Mal in Zeit und Raum zu geben scheint? Was passiert in mir, sobald sich die Fähigkeit in mir entwickelt, mich für ein Ich zu halten? Eine Fähigkeit, die aus der Begabung zum Denken entspringt, mithin also eine Qualität des Lebens darstellt, die gar nicht hätte entstehen müssen, da alle anderen Lebewesen auch ohne ein Ich-Bewusstsein


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