Das Gemeindekind. Marie von Ebner-Eschenbach

Das Gemeindekind - Marie von Ebner-Eschenbach


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sprach der Lehrer endlich: „Sei nicht so dumm. — Wenn du aus der Schule draussen bist, sollst du denken: wie kann ich hinein, und nicht, wenn du drin bist; wie kann ich hinaus?“

      Pavel stutzte; das war nun wieder ganz unerklärlich und stimmte mit der weit verbreiteten Meinung überein, der Schulmeister vermöge die Gedanken der Menschen zu erraten.

      „Geh jetzt,“ fuhr jener fort, „und komm morgen wieder und übermorgen auch, und wenn du acht Tage noch einander kommst, kriegst du von mir ein Paar ordentliche Stiefel.“

      Stiefel? — wie die Kinder der Bauern haben? ordentliche Stiefel mit hohen Schäften? Unaufhörlich während des Heimwegs sprach Pavel die Worte: „ordentliche Stiefel“ vor sich hin, sie klangen märchenhaft. Er vergass darüber, dass er sich vorgenommen hatte, den Arnost zu prügeln, er stand am nächsten Morgen vor der Tür der Schule, bevor sie noch geöffnet war, und während der Stunde plagte er sich mit heissem Eifer und verachtete die Mühe, die das Lernen ihm machte. Er verachtete auch die drastischen Ermahnungen Virgils und seines Weibes, die ihn zwingen wollten, statt zum Vergnügen in die Schule, zur Arbeit in die Fabrik zu gehen. Freilich musste dies im geheimen geschehen; zu offenen Gewaltmassregeln zu greifen, um den Buben im Winter vom Schulbesuch abzuhalten, wagten sie nicht; das hätte gar zu auffällig gegen die seinetwegen mit der Gemeinde getroffene Übereinkunft verstossen.

      Sieben Tage vergingen, und am Nachmittage des letzten kam Pavel nach Hause gerannt, in jeder Hand einen neuen Stiefel.

      Vinska war allein, als er anlangte; sie beobachtete ihn, wie er das blanke Paar in den Winkel am Herd, sich selbst aber in einiger Entfernung davon aufstellte und in stille Bewunderung versank. Freude vermochten seine vergrämten Züge nicht auszudrücken, aber belebter als sonst erschienen sie, und es malte sich in ihnen ein plumpes Behagen.

      Einmal trat er näher, hob einen der Stiefel in die Höhe, rieb ihn mit dem Ärmel, küsste ihn und stellte ihn wieder an seinen Platz.

      Aus der Stube erscholl ein Gelächter, Vinska trat auf die Schwelle, lehnte sich mit der Schulter an den Türpfosten (eine Tür gab es zwischen der Stube und dem Eingange nicht) und fragte:

      „Wo hast die Stiefel gestohlen, du Spitzbub?“

      Er sah sich nicht einmal nach ihr um, von antworten war gar keine Rede. Vinska jedoch wiederholte ihre Frage so oft, bis er sie anbellte:

      „Gestohlen! ja just gestohlen!“

      „Du Esel,“ murmelte sie, „siehst du? jetzt sagst du’s selbst.“

      Der Blick ihrer begehrlichen grauen Augen wanderte abwechselnd von den Stiefeln zu den eigenen nackten, hübsch geformten Füssen. Pavel hatte sich auf die Erde gekauert neben sein neues köstliches Eigentum; es war ihm, als müsse er es beschützen gegen eine nahende Gefahr, und er machte sich gefasst, ihr zu begegnen. Vinska neigte den Kopf auf die Seite, lächelte den Burschen, der drohend zu ihr emporsah, plötzlich an und sprach mit einschmeichelnder Stimme:

      „Geh, sag mir, woher hast sie?“

      Er wusste nicht, wie ihm geschah. In dem Ton hatte er die Vinska vor kurzem zum Peter sprechen hören, der ihr Liebhaber war. Heisse Wellen wogten auch in seiner Brust, er verschlang seine reizende Hausgenossin mit den Augen und meinte, was ihn da mit ungeheurer Macht angepackt hatte, sei die Lust, auf sie loszustürzen und sie durchzuprügeln.

      Dabei rührte er sich nicht, öffnete nur ganz willenlos die Lippen und sprach:

      „Der Herr Lehrer hat sie mir gegeben.“

      Vinska begann leise zu kichern. „O je — der! Wenn du sie von dem hast, dann hast du nichts.“

      „Was — nichts?“

      „Nun nichts! Wenn du morgen aufwachst, sind die Stiefel weg.“

      „Weg? . . . Warum nicht gar!“

      „Ja, ja! was der Lehrer schenkt, hält sich nicht über Nacht. Du weisst ja, dass er ein Hexenmeister ist.“

      Pavel geriet in Eifer: „Ich weiss, dass er kein Hexenmeister ist.“

      Das Mädchen warf verächtlich die Lippe auf. „Du Dummrian! Er war drei Tage tot und im Sarge. War er nicht? Und weiss nicht jedes Kind, dass einer, der drei Tage tot gewesen ist, in die Hölle hineingeschaut und dem Teufel, eine Menge abgelernt hat?“

      Pavel starrte sie sprachlos an, ihm begann zu gruseln. Sie gähnte, drückte die Wange an die emporgezogene Schulter und sagte nach einem Weilchen so nachlässig, als ob sie eine ihr langweilig gewordene, hundertmal erzählte Geschichte wiederhole:

      „Der alten blinden Marska, die im vorigen Jahr bei uns gestorben ist, hat er auch ein paar Schuhe geschenkt. Sie hat sie am Abend vors Bett gestellt, und wie sie am Morgen hineinfahren will, tritt sie statt in die Schuh auf eine Kröte, so gross wie eine Schüssel.“

      Pavel schrie auf: „Das ist nicht wahr!“ Heiss und kalt wurde ihm vor Zorn und Angst, und plötzlich schossen Tränen ihm in die Augen.

      Vinska streifte ihn mit einem Blick voll Geringschätzung und kehrte in die Stube zurück.

      An dem Abend suchte Pavel sich des Schlafes zu erwehren, er wollte seinen Schatz bewachen, er betete auch ein Vaterunser nach dem andern, um die bösen Geister zu bannen. Trotzdem sank er endlich doch in Schlummer, und als er am nächsten Morgen erwachte, hatte Vinskas Prophezeiung sich erfüllt — die Stiefel waren verschwunden.

      –––––––––––

      IV.

      Pavel verlor kein Wort über sein Unglück. Als Vinska ihn schelmisch lachend fragte, wo seine Stiefel wären, führte er einen so derben Schlag nach ihr, dass sie schreiend davonlief. Auch die Erkundigungen seiner Schulkameraden fertigte er mit Püffen ab; die ärgsten erhielt Arnost, der ihn dafür beim Lehrer verklagte. Damit aber war nichts getan, denn es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des letzteren, dass er gleich stocktaub wurde, wenn einer seiner Zöglinge sich über der andern beschwerte. Eine Woche verfloss, Pavel erschien nicht mehr in der Schule; er ging aus freien Stücken in die Fabrik und arbeitete dort von früh bis abends. Mehrmals schickte der Lehrer nach ihm, und da es vergeblich blieb, begab er sich endlich in eigener Person nach der Wohnung Virgils, um den Buben abzuholen. Das Weib des Hirten empfing ihn und verblüffte ihn, bevor er noch den Mund öffnen konnte, durch die lauten Ausbrüche ihres Jammers. Nach fünf Minuten war dem Lehrer, als ob er unter einer Traufe stände, aus der statt Regentropfen Schrotkörner auf ihn niederhagelten. Ihm wurde ganz wirr in seinem müden und schmerzenden Kopf.

      Die Frau rief Gott und alle Heiligen zum Zeugen ihrer Leiden an. Nein, sie hatte nicht geahnt, was sie sich aufhalste, als sie darein gewilligt, das Kind des Gehenkten und der Zuchthäuslerin bei sich aufzunehmen. Viel war ihr im Leben schon begegnet, aber etwas so Schlechtes wie der Bub noch nie. Jedes Wort, aus seinem Munde ist Trug und Verleumdung. Erzählt er nicht, dass seine Pflegeeltern ihn abhalten in die Schule zu gehen, und dass sie den Wochenlohn einstecken, den er in der Fabrik verdient?

      Von Entrüstung hingerissen, setzte sie hinzu, die bösen Augen weit geöffnet und bedeutungsvoll auf den Alten gerichtet:

      „Redet er nicht noch ganz andren als uns armen Leuten, mit Respekt zu melden, grausige Dinge nach?“

      Der Lehrer hatte sein Taschentuch gezogen und drückte es an den kahlen Scheitel. Er kannte die Gerüchte, die über ihn im Schwange waren, und es bildete den Zwiespalt in ihm, dass sie ihn manchmal verdrossen, und dass er sich ein anderes Mal einen Spass daraus machte, sie zu nähren. Heute war das erstere der Fall, er winkte abwehrend:

      „Still, still! Halte Sie Ihr Maul.“

      „O Jesus Maria, ich!“ rief das Weib, „ich red nicht! ich möcht mir lieber die Zunge abbeissen . . . Keinen Pfifferling sollten sich der Herr Lehrer mehr kümmern um den schlechten Buben, sag ich nur . . . Die schönen Stiefel! nicht zwei Tage hat er sie gehabt.“

      „So, wo sind sie?“

      Die Virgilova (wie sie im Ort genannt wurde) ergoss sich in einen


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