Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Йозеф Рот

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Den Mond ahnten sie hinter milchigem Gewölk. Auf den Schneefeldern dunkelten einzelne unregelmäßig konturierte Erdflecken wie Kratermünder. Der Frühling schien aus dem Wald einherzuwehn. Jonas und Schemarjah gingen schnell auf einem schmalen. Weg. Sie hörten das zarte Knistern der dünnen spröden Eishülle unter ihren Stiefeln. Ihre weißen rundlichen Bündel trugen sie geschultert an Stöcken. Einige Male versuchte Schemarjah ein Gespräch mit seinem Bruder anzufangen. Jonas antwortete nicht. Er schämte sich, weil er getrunken hatte und hingefallen war wie ein Bauer. An den Stellen, an denen der Pfad so schmal war, daß beide Brüder nebeneinander gehen konnten, ließ Jonas dem Jüngern den Vortritt. Am liebsten hätte er Schemarjah immer vor sich hergehen lassen. Wo der Weg wieder breiter wurde, verlangsamte er den Schritt, in der Hoffnung, Schemarjah würde weitergehen, ohne auf den Bruder zu warten. Aber es war, als fürchtete der Jüngere, den Älteren zu verlieren. Seitdem er gesehen hatte, daß Jonas betrunken sein konnte, traute er ihm nicht mehr, zweifelte er an des Älteren Vernunft, fühlte er sich für den Älteren verantwortlich. Jonas erriet, was sein Bruder empfand. Ein großer törichter Zorn kochte in seinem Herzen. ,Lächerlich ist Schemarjah‘, dachte Jonas. ,Wie ein Gespenst ist er dünn, den Stock kann er nicht einmal halten, jedesmal schultert er ihn wieder, das Bündel wird noch in den Dreck fallen.‘ Bei der Vorstellung, daß Schemarjahs weißes Bündel vom glatten Stock in den schwarzen Dreck der Straße fallen könnte, lachte Jonas laut auf. „Was lachst du?“ fragte Schemarjah. „Über dich!“ antwortete Jonas. „Ich hätte mehr Recht, über dich zu lachen“, sagte Schemarjah. Wieder schwiegen sie. Schwarz wuchs ihnen der Tannenwald entgegen. Aus ihm, nicht aus ihnen selbst, schien die Schweigsamkeit zu kommen. Von Zeit zu Zeit erhob sich ein Wind aus willkürlicher Himmelsrichtung, ein heimatloser Windstoß. Ein Weidenbusch regte sich im Schlaf, Zweige knackten dürr, die Wolken liefen hell über den Himmel. „Jetzt sind wir doch Soldaten!“ sagte auf einmal Schemarjah. „Ganz richtig“, sagte Jonas, „was waren wir denn sonst? Wir haben keinen Beruf. Sollen wir Lehrer werden wie unser Vater?“ — „Besser als Soldat sein!“ sagte Schemarjah. „Ich könnte ein Kaufmann Werden und in die Welt gehen!“ — „Die Soldaten sind auch Welt, und ich kann kein Kaufmann sein“, meinte Jonas. „Du bist betrunken!“ — „Ich bin nüchtern, wie du. Ich kann trinken und nüchtern sein. Ich kann ein Soldat sein und die Welt sehn. Ich möchte ein Bauer sein. Das sag’ ich dir — und ich bin nicht betrunken . . .“

      Schemarjah zuckte mit den Schultern. Sie gingen weiter. Gegen Morgen hörten sie die Hähne krähn aus entfernten Gehöften. „Das wird Jurki sein“, sagte Schemarjah. „Nein, es ist Bytók!“ sagte Jonas.

      „Meinetwegen Bytók“, knurrte Schemarjah.

      Eine Fuhre klapperte und rasselte hinter der nächsten Biegung des Weges. Der Morgen war fahl, wie die Nacht gewesen war. Kein Unterschied zwischen Mond und Sonne. Schnee fing an zu fallen, weicher warmer Schnee. Raben flogen auf und krächzten.

      „Sieh, die Vögel“, sagte Schemarjah; nur als Vorwand, um den Bruder zu versöhnen.

      „Raben sind das!“ sagte Jonas. „Vögel!“ ahmte er höhnisch nach.

      „Meinetwegen!“ sagte Schemarjah: „Raben!“

      Es war wirklich Bytók. Noch eine Stunde, sie kamen nach Jurki. Noch drei Stunden, und sie waren zu Haus.

      Es schneite dichter und weicher, je weiter der Tag fortschritt, als käme der Schnee von der ansteigenden Sonne. Nach einigen Minuten war das ganze Land weiß. Auch die einzelnen Weiden am Weg und die verstreuten Birkengruppen zwischen den Feldern weiß, weiß, weiß. Nur die zwei jungen schreitenden Juden waren schwarz. Auch sie überschüttete der Schnee, aber auf ihren Rücken schien er schneller zu schmelzen. Ihre langen schwarzen Röcke flatterten. Die Schöße pochten mit hartem regelmäßigem Schlag gegen die Schäfte der hohen Lederstiefel. Je dichter es schneite, desto schneller gingen sie. Bauern, die ihnen entgegenkamen, gingen ganz langsam, mit eingeknickten Knien, sie wurden weiß, auf ihren breiten Schultern lag der Schnee, wie auf dicken Ästen, schwer und leicht zugleich, vertraut mit dem Schnee, gingen sie in ihm einher, wie in einer Heimat. Manchmal blieben sie stehn und sahen sich nach den zwei schwarzen Männern um wie nach ungewohnten Erscheinungen, obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd war. Atemlos langten die Brüder zu Hause an, schon fing es an zu dämmern. Sie hörten von weitem den Singsang der lernenden Kinder. Er kam ihnen entgegen, ein Mutterlaut, ein Vaterwort, ihre ganze Kindheit trug er ihnen entgegen, alles bedeutete und enthielt er, was sie seit der Stunde der Geburt geschaut, vernommen, gerochen und gefühlt hatten: der Singsang der lernenden Kinder. Er enthielt den Geruch der heißen und würzigen Speisen, den schwarzweißen Schimmer, der von Bart und Angesicht des Vaters ausging, den Widerhall der mütterlichen Seufzer und der Wimmertöne Menuchims, des betenden Geflüsters Mendel Singers am Abend, Millionen unnennbarer regelmäßiger und besonderer Ereignisse. Beide Brüder nahmen also mit den gleichen Regungen die Melodie auf, die ihnen durch den Schnee entgegenwehte, während sie sich dem väterlichen Hause näherten. In gleichem Rhythmus schlugen ihre Herzen. Die Tür flog auf. Durch das Fenster hatte sie ihre Mutter Deborah schon lange kommen sehn.

      „Wir sind genommen!“ sagte Jonas ohne Gruß.

      Auf einmal stürzte ein furchtbares Schweigen über die Stube, in der eben noch die Stimmen der Kinder geklungen hatten, ein Schweigen ohne Grenzen, um vieles gewaltiger als der Raum, der seine Beute geworden war, und dennoch geboren aus dem kleinen Wort „genommen“, das Jonas eben ausgesprochen hatte. Mitten im halben Wort, das sie memoriert hatten, brachen die Kinder das Lernen ab. Mendel, der auf und ab durch die Stube gewandert war, blieb stehn, sah in die Luft, erhob die Arme und ließ sie wieder sinken. Die Mutter Deborah setzte sich auf einen der zwei Schemel, die immer in der Nähe des Ofens standen, als hätten sie schon seit langem auf die Gelegenheit gewartet, eine trauernde Mutter aufzunehmen. Mirjam, die Tochter, hatte sich rückwärts tastend in die Ecke geschoben, laut pochte ihr Herz, sie glaubte, alle müßten es hören. Die Kinder saßen festgenagelt auf ihren Plätzen. Ihre Beine in wollenen buntbereiften Strümpfen, die unaufhörlich während des Lernens gebaumelt hatten, hingen leblos unter dem Tisch. Draußen schneite es unaufhörlich, und das weiche Weiß der Flocken strömte einen fahlen Schimmer durch das Fenster in die Stube und auf die Gesichter der Schweigenden. Ein paarmal hörte man verkohlte Holzreste im Ofen knistern und ein leises Knattern an den Türpfosten, wenn der Wind an ihnen rüttelte. Die Stöcke noch über den Schultern, die weißen Bündel noch an den Stöcken, standen die Brüder an der Tür. Boten des Unglücks und seine Kinder. Plötzlich schrie Deborah: „Mendel, geh, lauf und frag die Leute um Rat!“

      Mendel Singer faßte nach seinem Bart. Das Schweigen war verbannt, die Beine der Kinder fingen an sachte zu baumeln, die Brüder legten ihre Bündel und ihre Stöcke ab und näherten sich dem Tisch.

      „Was redest du für Dummheiten?“ sagte Mendel Singer. „Wohin soll ich gehn? Und wen soll ich um Rat fragen? Wer hilft einem armen Lehrer, und womit soll man mir helfen? Welche Hilfe erwartest du von den Menschen, wo Gott uns gestraft hat?“

      Deborah antwortete nicht. Eine Weile saß sie noch ganz still auf dem Schemel. Dann erhob sie sich, stieß ihn mit dem Fuß, wie einen Hund, daß er mit Gepolter hintorkelte, ergriff ihren braunen Schal, der wie ein Hügel aus Wolle auf dem Fußboden gelegen hatte, umwickelte Kopf und Hals, knüpfte die Fransen im Nacken zu einem starken Knoten, mit einer wütenden Bewegung, als wollte sie sich erwürgen, wurde rot im Gesicht, stand da, zischend und wie gefüllt von siedendem Wasser, und spuckte plötzlich aus, weißen Speichel feuerte sie wie ein giftiges Geschoß vor Mendel Singers Füße. Und als hätte sie damit allein ihre Verachtung nicht genügend bewiesen, schickte sie dem Speichel noch einen Schrei nach, der wie Pfui! klang, der aber nicht genau verstanden werden konnte. Ehe sich die Verblüfften gefaßt hatten, schlug sie die Tür auf. Ein böser Windstoß schüttete weiße Flocken ins Zimmer, blies Mendel Singer ins Gesicht, griff den Kindern an die hängenden Beine. Dann knallte die Tür wieder zu. Deborah war fort.

      Sie lief, ohne Ziel, durch die Gassen, immer in der Mitte, ein schwarzbrauner Koloß, raste sie durch den weißen Schnee, bis sie in ihm versank. Sie verwickelte sich in den Kleidern, stürzte, erhob sich mit erstaunlicher Hurtigkeit, lief weiter, noch wußte sie nicht, wohin, aber es war ihr, als liefen die Füße schon selbst zu einem Ziel, das ihr Kopf noch nicht kannte.


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