Der Goldschatz aus Böhmen - Erzählungen und Anekdoten. Gertrud Fussenegger
weg aus Kärnten und zurück nach Vorarlberg und wieder ins Blaue hinein gewartet, gehofft und mit dem nächsten Umzug gerechnet. Der kam dann auch, doch diesmal willkommen, trotz Müh’ und Plag’. Denn der Vater hatte endlich eine Stellung gefunden, im Tirolischen, er sollte dort ein Gut verwalten, es war heruntergekommen in den vergangenen Jahren, er sollte es wieder in Ordnung bringen und Ertrag erwirtschaften. Konnte er denn das? Er konnte es, er mußte es können, er las einschlägige Bücher, er befragte Einheimische, er holte sich Rat von erfahrenen Leuten, vor allem aber gehorchte er dem eigenen gesunden Menschenverstand, der eigenen Vorsicht und Geduld. Er erwartete nie etwas Außergewöhnliches. Darum konnte ihm das Normale gelingen. Als wir ins Tirolische übersiedelten, sagte meine Mutter zu mir: »Hier darfst du drei Steinchen vom Boden aufheben und sagen: sie sind mein.«
Drei Steinchen. Das war nicht viel. Trotzdem begriff ich damals: Es war ein Anfang, ein Anfang um einzuwurzeln.
Meine Mutter kam aus einer Familie, die seit langem seßhaft war. Dort in Pilsen, in der rußigen Stadt zwischen Bierbrauereien und Schwerindustrie, war die Familie einheimisch, bürgerlich, ehemals wohlhabend. Ein Urgroßvater hatte ganze Häuserzeilen besessen und, vor der Stadt, Felder, Wiesen, sogar einen Weinberg. (Ich bezweifle, daß dort jemals Wein gediehen war.) Der große Reichtum hatte sich zwar unterdessen verflüchtigt. Immerhin: Da gab es Grund und Boden. Das war meiner Mutter in Fleisch und Blut übergegangen: nur Grund und Boden verleihen etwas wie Stand und Gewicht, nur das eigene Dach überm Kopf ist Heil und Erlösung. Wer es hat, ist befreit von Angst. Er kann nicht gekündigt und von Schikanen verfolgt werden. Er braucht keinen Hauswirt zu fürchten und keine Mieterhöhung, er braucht nicht mehr einzupacken und auszuziehen und durch die Welt zu zigeunern.
So wollte sie sich und den Ihren Grund und Boden verschaffen und ein Dach überm Kopf.
Danach strebte sie mit allen Sinnen, allen Kräften und über ihre Kräfte hinaus.
Wie schon gesagt: Ihr Herz war geschädigt. Die Pumpe ging rasselnd. Ein Arzt hatte ihr einmal gesagt: »Älter als achtundvierzig werden Sie nicht.« Mit diesem Urteil lebte sie. Anfangs mag es sie nicht tiefer beunruhigt haben. Da lag der Zeitpunkt noch fern. Doch er rückte näher. Jetzt war sie vierzig. Jetzt war sie dreiundvierzig; dreiundvierzig, als der Glücksfall eintrat mit der Stellung im tirolischen Inntal; als sie sich nicht mehr sorgen mußte: Woher nehme ich das Geld für die Winterkartoffeln? für eine Zwirnrolle? für einen Schürzenstoff? und woher vor allem für die Miete? – Jetzt wohnten wir umsonst, und Vaters Hof lieferte das Nötigste: Milch und Brennholz, Käse und Nüsse. In einem Garten zogen wir Gemüse, im Hof scharrten einige Hühner. Jetzt konnte sie endlich sparen, sparen in dem Sinn, daß sie ansparte, Groschen um Groschen, Schilling um Schilling für das, wovon sie träumte, für Grund und Boden, für das Dach überm Kopf im eigenen Haus.
Denn für ewige Zeiten, das wußte sie, würde auch die gute Bleibe im Tiroler Oberland nicht zu haben sein. Der Vater, längst weißhaarig, vom Krieg verbraucht, würde nicht immer arbeiten können. Schon wurde es ihm sauer, täglich hinaufzuwandern zu dem Hof, den er verwaltete; doppelt sauer die Rundgänge durch den Forst, der sich über Hunderte Meter hinaufzog ins Gebirge, dreifach sauer der Aufstieg zu den Almen. Eines Tages würde es damit ein Ende haben. Dann hieß es wieder wandern – wohin? Die Mutter hatte sichs geschworen: Ins eigene Haus. Das würde dann der letzte Umzug sein.
Es konnte nicht anders kommen: ihre Sparsamkeit nahm manischen Charakter an. Ich war noch zu jung, um größere Wünsche zu haben als etwa eine Rippe Schokolade oder eine kitschige Postkarte mit bunter Herbstlandschaft. Meinen älteren Geschwistern setzte die Sparsamkeit schon schlimmer zu. Sie wären, denke ich heute, auch einmal gern ins Kino gegangen oder hätten mit Freunden ein Glas Limonade im Wirtshaus getrunken. Aber das gab es nicht. Es gab fast nichts, was Geld kostete, und selbst ich, die verhätschelte Jüngste, bekam ein Donnerwetter um die Ohren, wenn ich mir in der Schule einen neuen Bleistift klauen ließ. Der Untergang wurde mir prophezeiht: »Du wirst noch einmal als Bettlerin sterben.«
Jede Ausgabe, die vermieden werden konnte, wurde vermieden. Schon längst hatten wir keine Hilfe mehr im Haus. Mit eigenen Händen wuschen Mutter und Schwester die Wäsche. Wenn dann abends die Finger wundgerieben waren an der eisernen Rumpel, aufgebissen von der scharfen Lauge, dann wurde davon kein Wesen gemacht: so waren doch wieder drei Schilling gespart – oder gar fünf – für das Dach überm Kopf, für das künftige Haus.
Alle Abende saß der Vater und zeichnete Pläne, Grundrisse, Aufrisse, Schnitte durchs Treppenhaus und Dachgestühl. Er zeichnete und bedachte genau, berechnete Mauerstärken und Ziegelmengen und zerbrach sich den Kopf, wo noch ein Quadratmeter eingespart werden könnte. Die Mutter saß dabei und gab Ratschläge, und wir Kinder standen hinter dem Vater und beobachteten bewundernd, wie fein er strichelte und wie zierlich er die Fassade zeichnete, die sollte ja wunderschön werden, darin war unser nüchtern-sachlicher Vater doch ein Kind seiner schmuckfreudigen Zeit, daß er sich sein Haus nicht anders denken konnte als mit geschnitzten Balkonen, gedrechselten Säulchen und buntbemalten Fensterläden, und in jedem Fenster blühten schon Geranien.
Doch wo dieses Traumhaus stehen sollte, war noch gar nicht ausgemacht.
Im Tiroler Oberland wollten die Eltern nicht bleiben. Sie dachten an Innsbruck, und schließlich war von Hall die Rede, der kleinen Stadt östlich von Innsbruck: dort, hieß es, habe ein Zimmermann einen Grund zu verkaufen, und derselbe Zimmermann biete sich an, auch das Haus zu bauen, hübsch und so solide wie nur möglich. Die Gasse, an der die Parzelle liege, habe den Namen Fuxmagen.
Fuxmagen! Einen so seltsamen Straßennamen hatten wir noch nie gehört. War da nicht gleich ein Wolfsleberplatz in der Nähe oder eine Bärenlungenallee? – Wir Kinder wollten uns totlachen.
Unseren Eltern hingegen war nicht zum Lachen zumute; keineswegs zum Lachen. Denn ehe man daran denken konnte, mit dem Zimmermann übereinzukommen, die Parzelle zu erwerben oder gar zu bebauen, da mußte ja doch erst das Geld beschafft werden für das ganze Unternehmen, und das Geld war ja noch gar nicht vorhanden. Aller Sparsamkeit zum Trotz, allem Verzicht entgegen, aller manisch Groschen auf Groschen häufenden Knickerei, – es war nicht mehr als ein Siebentel zusammengebracht, zusammengefuchst und -gerittert, ein Siebentel von dem, was der Zimmermann als unvermeidliche Mindestsumme nannte. Sechs Siebentel fehlten. Was tun?
Hilfesuchend wendete sich meine Mutter an ihre Familie in Böhmen.
Dort hatte sie noch nie vergeblich angeklopft. Ebenda ergab sich ein Glücksfall. Nach dem Tod des alten Vaters beschloß die Erbengemeinschaft, eins der alten Stadthäuser zu verkaufen, es war in einer guten Straße gelegen, war groß und aufwendig gebaut, das durfte schon eine schöne Summe tragen. Fünf Geschwister waren da, die würden sich die Kaufsumme teilen, eins davon war meine Mutter, und eine ihrer Schwestern war bereit, auf ihren Anteil zu verzichten und ihn einzubringen in das Haller Haus.
So weit, so gut und sehr gut. Aber, aber! Zwischen Pilsen, der alten böhmischen Heimat, und Österreich lag eine Grenze, eine Staats-Wirtschafts- und Devisengrenze, ähnlich wie heute.
Mauer und Stacheldraht – Nein, die gab es noch nicht. Noch waren keine Minen ausgelegt, noch standen keine behelmten Posten auf Wachtürmen mit Maschinenpistolen, noch kreisten nachts keine Scheinwerfer über kahlgeschlagenen Todesstreifen. Trotzdem: die beiden Staaten, CSR und Österreich, waren einander nicht grün. Nichts Gutes gönnten sie einander. So war es verboten, Geld und Geldeswert – es seien denn winzige Sümmchen – in den Nachbarstaat auszuführen.
Also mußte man schmuggeln.
Geschmuggelt wurde in jener Zeit von fast jedermann. Mit Schmuggel ignorierte man die Grenze, die, damals erst wenige Jahre alt und nach jahrhundertelanger Grenzelosigkeit, noch keine allgemein anerkannte Tatsache war. Für uns Österreicher war sie noch nicht legitim. Hatte das Land da drüben nicht vorher zu uns gehört? Noch schien die Trennung wider die Natur. Dennoch wußte man sehr wohl, daß die neuen Machthaber in Prag keinen Spaß verstanden, daß sie kein Pardon kannten und daß man eine Menge riskierte, wenn man ihre Gesetze umging.
Nun galt es in diesem Fall, eine gewaltige Menge zu riskieren. Aber wie und wer? Wer sollte sich getrauen, mit einem starken Bündel großer Scheine