Missionale Theologie. Roland Hardmeier
gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24). Mission findet in der Zwischenzeit zwischen Kreuz und Wiederkunft statt. Diese Zwischenzeit ist Gnadenzeit, in welcher Gott alle Menschen zu Umkehr und Glaube ruft. Damit ist die Mission eschatologisch verankert, was ihr den rechten Sinn gibt. Ohne eine heilsgeschichtliche Betrachtung der Bibel wird die Mission letztlich in die Irre gehen. Denn die Heilsgeschichte läuft auf das Gericht zu. Aus diesem Grund ist die Mission „der zentrale heilsgeschichtliche Sinn der Zwischenzeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft des Herrn“.88 Mission in neutestamentlichem Sinn kann darum niemals nur Hilfeleistung sein, sie ist immer mit einer Botschaft verknüpft und mit einer Aufforderung: Gott bietet rettende Gnade an, die durch Buße und Glauben ergriffen werden kann (Mk 1,15f). Der Ruf zum Glauben und die Aufforderung zu einem Herrschaftswechsel unter das Joch Christi (Mt 11,28–30) gehören untrennbar zur christlichen Mission.
Jesus sendet seine Jünger
In der Sendung Jesu zeigt sich, dass der Gesandte stets den Willen des Sender sucht und in seinem Namen handelt: Jesus kennt den, der ihn gesandt hat (Joh 7,29) und lebt in engster Gemeinschaft mit ihm (Joh 8,12–29). Jesus tut den Willen und die Werke dessen, der ihn gesandt hat (Joh 5,30; 9,4). Seine Worte kommen nicht von ihm selbst, sondern vom Vater, der ihn gesandt hat (Joh 7,16–18). Die Sendung Jesu durch den Vater setzt sich in der Sendung der Jünger durch Jesus fort. Der zentrale Text ist Joh 17,18–23:
Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind. Aber ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich.
Dieser Text, der in Kurzform in Joh 20,21 wiederholt wird, verbindet die Sendung von Jesus durch den Vater mit der Sendung der Jünger durch Jesus. Die Missio Dei, aus der die Sendung Jesu hervorgeht, wird so zum Modell christlicher Sendung. Der Text enthält drei wesentliche Aussagen über die Missio Dei:
Erstens führt die Missio Dei durch die Tatsache, dass sich in der Sendung der Jünger die Sendung Jesu fortsetzt, zur Missio Ecclesiae. Durch das Wort „wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ verbindet Jesus die Mission Gottes mit der Mission der Kirche. Die Sendung des Sohnes durch den Vater führt zur Sendung der Jünger durch den Sohn. Die Missio Dei ist ohne die Missio Ecclesiae also nicht zu denken. Die Kirche ist das von Jesus erwählte Werkzeug zur Sendung bis an die Enden der Erde. Man kann nur unter Missachtung dieser biblischen Zusammengehörigkeit von Mission und Kirche davon reden, die Missio Dei mache die Sendung der Kirche unnötig.
Zweitens führt das Leben Jesu als Modell christlichen Handelns in der Welt zu Mission mit dienendem Charakter. Es geht in der Mission sowohl um die Verkündigung des Evangeliums als auch um die Nachahmung des Lebens Jesu. Das Kreuz und das Leben Jesu sind grundlegend für ein biblisches Sendungsverständnis: Das Kreuz ist Grund und Inhalt der Mission. Ohne das Kreuz gäbe es keine objektive Heilsgrundlage und keine Botschaft der Rettung zu verkünden. Das Leben Jesu ist das Modell der Mission. Es zeigt an, wie Mission zu geschehen hat: Sie ist Nachahmung des Lebens und des Dienstes Christi. Das wirkt sich sowohl auf den Inhalt als auch die Form der Mission aus. So wie Jesus sich mit den Menschen und ihren Nöten identifizierte, sind wir gerufen, zu den Menschen zu gehen und uns ihrer anzunehmen – mit ihren leiblichen, seelischen und geistlichen Bedürfnissen. Mission ist ihrem Wesen nach Dienst. In der jüngeren evangelikalen Missionsgeschichte ist diese Art von Mission mit dem Begriff „inkarnatorisch“ bedacht worden. Die Inkarnation zeigt, wie Mission zu geschehen hat, nämlich als liebevolle Suchbewegung zu den Menschen, um ihnen im Geist Jesu zu dienen. Seit dem Lausanner Kongress 1974 ist Mission in Christ‘s Way unter Berufung auf Joh 20,21 zu einem festen Bestandteil der evangelikalen Missionstheologie geworden.89
Drittens kann Mission nur als Zeugnis einer am Reich Gottes orientierten Gemeinschaft Wirkung entfalten. Jesus betet in Joh 17 im Kontext der Sendung in die Welt für die Einheit seiner Nachfolger. Die Einheit der Kirche ist es, die den Menschen vor Augen führt, dass Jesus von Gott gesandt ist. In einer Welt voller Hass und Unversöhnlichkeit darf die Einheit der Kirche kein bloßes Gedankenkonstrukt sein, sondern muss unbedingt gelebte Praxis werden. In der Einheit der Kirche kann die Botschaft des Evangeliums gesehen werden. Francis Schaeffer sieht in ihr die höchste Überzeugungskraft des Christentums.90 Mission besteht demnach nicht nur in der Verkündigung des Reiches Gottes und seines Königs Jesus, obwohl diese Botschaft zentral ist, sie besteht ebenso in der Demonstration dieses Reiches durch versöhnte Gemeinschaft (Röm 14,17).91 Mission ist das Zeugnis von Christus und seiner verändernden Kraft, und dieses Zeugnis ist das Zeugnis einer Gemeinschaft, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament.92 Die Kirche ist in die Welt gesandt, um zeichenhaft zu leben. Aus diesem Grund sammelte Jesus in seiner Jüngergemeinschaft die unterschiedlichsten Leute und lehrte sie, als versöhnte Menschen miteinander zu leben. Jesus hatte Zeloten und Zöllner in den Reihen seiner Jünger und er lehrte sie, dass sie einander dienen sollten (Mt 20,20–28). „Diese neue Gemeinschaft von erlöstem Gesindel war eine lebendige Demonstration des heraufziehenden messianischen Königreiches, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschten. Ihre bloße Existenz bestätigte Jesu Ankündigung des Evangeliums vom Reich und stellte gleichzeitig einen zentralen Teil von ihm dar.“ 93 Biblische Sendung besteht nicht nur im Gehen zu den Menschen, sondern auch im Sein unter den Menschen. Paulus wandte in seinen Briefen viel Aufmerksamkeit darauf, die Christen zur Versöhnung anzuhalten. In Röm 14,1–15,13 kommt Paulus auf unterschiedliche Überzeugungen in Speisefragen zu sprechen. Diese Unterschiede waren für die Christen in Rom gemeinschaftsbedrohend. Paulus weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es im Reich Gottes um Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist geht (Röm 14,17). In der Gemeinschaft der Versöhnung, welche die Kirche lebt, manifestiert sich also das von den Propheten angekündigte Gottesreich. Der lange Abschnitt von Röm 14,1–15,13 ist nicht ein Anhängsel zur Rechtfertigungslehre, sondern stellt durchaus einen Höhepunkt dar: Die Gerechtfertigten können unter dem Kreuz ihre sozialen Beziehungen neu ordnen, einander als geliebte Geschwister erblicken und so einander trotz ihrer Unterschiede annehmen.94 Diese unbedingt gelebte Praxis ist eine Demonstration des Reiches Gottes in einer zerrissenen Welt und legt Zeugnis für Christus ab.
Der Heilige Geist befähigt zur Mission
Gott sandte seinen Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes in die Welt (Lk 4,18). An Pfingsten wurden die Jünger mit derselben Kraft ausgerüstet, um die Mission Jesu fortzusetzen (Apg 1,8). Aber nicht nur an den Jüngern, sondern auch an der Welt würde der Geist Gottes wirken. Er würde das Zeugnis der Jünger gebrauchen und die Welt überführen (Joh 16,7–11).
Mission ist ohne die Kraft des Heiligen Geist eine „Mission: Impossible“. Das zeigt sich schon an der Sendung von Jesus.95 Jesus begann seinen Dienst, nachdem bei seiner Taufe der Heilige Geist auf ihn herabgekommen war (Lk 3,21f). Anschließend wurde er in die Wüste geführt, wo er versucht wurde (Lk 4,2–13). Nachdem er die Probe bestanden hatte, war er bereit für seinen Dienst: „Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend“ (Lk 4,14). Dem Vorbild von Jesus folgend mussten die Jünger in Jerusalem bleiben, denn erst nachdem sie mit der Kraft aus der Höhe angetan worden waren (Lk 24,49), konnten sie zu brauchbaren Zeugen des Christus werden (Apg 1,8).
Dass Mission in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht und dass sich in der Mission der Kirche die Mission von Jesus fortsetzt, zeigt sich im Doppelwerk Lukasevangelium-Apostelgeschichte besonders deutlich. Durch die gesamte Apostelgeschichte hindurch leitet der erhöhte Herr durch seinen