Reiten nur mit Sitzhilfe. Brigitte Kaluza
Reitlehren aus dem Blickwinkel der modernen Biologie gewidmet.
In diesem Buch wird häufig Bezug genommen auf die Körperebenen bei Mensch und Pferd.
(Illustrationen: links: shutterstock.com/BioMedical, rechts: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)
(Zeichnung: Brigitte Kaluza)
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NEURONALE STEUERUNG
Warum ist es sinnvoll, sich mit Neurobiologie und Gehirnfunktion zu befassen, wenn man eigentlich „nur“ besser reiten will? Sehen wir uns noch einmal die Problematik an, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des Reitens und der Reitlehren besteht: Kinder, die noch zu klein sind, um Erklärungen zu verstehen und bewusst zu verarbeiten, lernen Reiten automatisch, einfach durch Erfühlen auf einem kooperativen Pferd. Reitlehrer, die erklären sollen, wie Reiten funktioniert, sprechen von Schenkel- und Zügelhilfen, aber wenn sich Erwachsene beim Reitenlernen an diese Instruktionen halten, ist das Ergebnis unvollkommen. Der Weg über das bewusste Verarbeiten einer Reitinstruktion führt paradoxerweise zu einem schlechteren Resultat. Der Grund ist, dass unsere Handlungen, unsere Bewegungen und unsere Absichten nicht nur von unserem Bewusstsein gesteuert werden. Unsere Steuerzentrale ist ein Team mit mehreren Mitgliedern, von denen nur eines unser Bewusstsein (mit Sitz in der Großhirnrinde) ist. Reitlehren sprechen unseren bewussten Verstand an, aber leider funktioniert Reiten nicht primär mit denjenigen Körperteilen, die wir bewusst steuern. Daher geschieht das, was wir auch im Alltagsleben bei Teamarbeit beobachten – es kommt nichts Vernünftiges dabei heraus, wenn das Teammitglied, das am wenigsten von der Aufgabe versteht, ständig das große Wort führt.
Sehen wir uns daher zunächst einmal das Team genauer an, das unsere Handlungen steuert. Wir glauben zwar, dass wir unsere Körperbewegungen bewusst steuern können, aber in Wirklichkeit bedient unser Bewusstsein unseren Körper in etwa so, wie wir unseren Laptop oder unser Smartphone bedienen – über eine Benutzeroberfläche, hinter der viele miteinander verschaltete Prozessoren und Programme arbeiten.
Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung
Die Fortbewegung aller Wirbeltiere wird im Rückenmark von den Gangmuster-Schaltzentren erzeugt. Sie beherrschen die von ihnen gesteuerten Muskelgruppen wie Musiker eines Orchesters ihre Instrumente.
Die eigentliche Bewegungssteuerung, die uns (oder einem Pferd) das Laufen ermöglicht, findet in Gruppen von Nervenzellen statt, die entlang unseres Rückenmarks und im Hirnstamm angeordnet sind. Menschen und Pferde sind Wirbeltiere. Die gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere lebten vor etwa 530 Millionen Jahren und sahen ungefähr so aus wie die heute noch existierenden Lampreten: fischähnliche Wesen, die sich im Wasser durch Schlängeln fortbewegen (Abb. unten).
Versteinerung von Myllokunmingia: Das erste Wirbeltier lebte vor ca. 530 Millionen Jahren.
Die heute noch lebenden Lampreten (hier ein Neunauge) ähneln im Körperbau dem Urwirbeltier.
Das Prinzip der neuronalen Bewegungssteuerung stammt vom Ur-Wirbeltier. (Fotos: links: commons.Wikimedia/Degan Shu, Northwest University, Xi’an, China, rechts: shutterstock.com/Andrei Nekrassov)
Das Grundmuster der Fortbewegung aller Wirbeltiere basiert immer noch auf Schlängelbewegungen, auch wenn wir uns nicht mehr im Wasser fortbewegen oder mit dem Bauch auf dem Boden wie eine Schlange kriechen, sondern inzwischen Beine haben. Vierbeinige Wirbeltiere (dazu zählen auch Menschen, auch wenn wir normalerweise nur noch auf den Hinterbeinen laufen) haben zwei Gruppen von Nervenzellen im Rückenmark, die die Fortbewegung steuern, eine im Bereich der Lendenwirbel (für die Hinterbeine) und eine im Halsbereich (für die Vorderbeine oder Arme). Diese Gruppen von Nervenzellen erzeugen das zentrale Bewegungsmuster und heißen daher in der wissenschaftlichen Literatur „Central Pattern Generator“ oder abgekürzt CPG, da Englisch die internationale Sprache der modernen Naturwissenschaft ist. Auf Deutsch könnte man sie als „Gangmuster-Schaltzentren“ bezeichnen (Abb. Seite 16).
Wir kennen heute die genaue Verschaltung einzelner Nervenzellen in diesen Schaltzentren und wissen daher, wie das Prinzip der Fortbewegung funktioniert (Goulding, 2009). Die Nervenzellen in diesen Schaltzentren steuern Muskelgruppen, die bei der Laufbewegung des betreffenden Wirbeltieres üblicherweise zusammen und koordiniert betätigt werden. Sie stimmen sich dabei aber auch untereinander ab wie die Musiker eines Orchesters, die nicht nur ihr jeweiliges Instrument (die Muskelgruppen) virtuos beherrschen, sondern auch gemeinsam rhythmisch musizieren.
Bei einem im Wasser schlängelnden Fisch funkt beispielsweise das Schaltzentrum rechts hinten: „Achtung, ich kontrahiere gerade die Muskeln auf meiner Seite, Schaltzentrum hinten links bitte Muskeln entspannen lassen, damit wir die Schwanzflosse nach rechts schwenken können.“ Bei Wirbeltieren, die mithilfe von Beinen auf dem Land laufen, ist das Hinterbein-Schaltzentrum dominant. Bei einem trabenden Pferd würden dort für einen Schritt gleichzeitig drei „Funksprüche“ abgesetzt, wie in der Abbildung auf Seite 16 schematisch dargestellt.
Die Steuerung der Fortbewegung im Nervensystem (Illustrationen: links: shutterstock.com/decade3d – anatomy online, rechts: shutterstock.com/CLIPAREA l Custom media)
Diese Funksprüche bewirken, dass das Pferd rechtes Hinterbein und linkes Vorderbein gleichzeitig hebt, die Lendenwirbelsäule nach rechts biegt (wodurch das Becken und damit das rechte Hinterbein nach vorne schwingen) und sich mit dem linken Hinterbein nach vorne schiebt. Für den nächsten Schritt geschieht genau dasselbe seitenverkehrt.
In den Gangmuster-Schaltzentren ist also die Steuerung von Muskelgruppen zusammengefasst, die bei der Fortbewegung gemeinsam betätigt werden. Wichtig ist, dass dabei nicht nur die Beinmuskulatur, sondern auch die zugehörige Rückenmuskulatur integriert ist: Bei allen Wirbeltieren bewirken die von den Schaltzentren erzeugten rhythmischen Bewegungen der Rumpfmuskulatur das eigentliche Gangmuster. Bereits während der Embryonalentwicklung entwickeln sich die neuronalen Kontakte für die Kommunikation zwischen den Schaltzentren, die die Koordination von vorderer und hinterer, bzw. rechter und linker Körperhälfte ermöglichen.
Die Koordination selbst muss jedoch erlernt werden. Säugetiere lernen ihre arttypischen Gangmuster nach der Geburt durch „Versuch und Irrtum“: Der Körperbau gibt die jeweiligen Bewegungsmöglichkeiten vor, aber um diese tatsächlich zu realisieren, muss die Synchronisation der Schaltzentren durch Übung perfektioniert werden. Bei einem Fohlen findet die hauptsächliche Übungsphase wenige Stunden nach der Geburt statt, das Menschenkind hat erst nach mehreren Monaten ausreichend Körperkraft für den aufrechten Gang und durchlebt daher zuvor noch eine Zeit als „Vierbeiner“.
Um den Vergleich noch einmal zu strapazieren – die Musiker (die neuronalen Schaltkreise) sind bei der Geburt bereits vorhanden,