Reiten nur mit Sitzhilfe. Brigitte Kaluza
aus allen Körperregionen und Sinnesorganen. Das limbische System gibt aber auch ständig Rückmeldung über seine Bewertungen an den gesamten Körper: Unser Auge vergleicht die Zahlen der Lottoziehung mit denjenigen auf unserem Tippschein, unsere Großhirnrinde weiß, dass hohe Übereinstimmung viel Geld bedeutet, unser Kleinhirn erkennt und meldet die Übereinstimmung an das limbische System, das limbische System bewertet die Situation mit „große Freude“ – und sofort hüpft unser Körper, unsere Mimik zeigt ein Lachen und unsere Stimme jubelt.
Kommunikation ist also primär und ursprünglich etwas, das innerhalb eines Körpers stattfindet, im inneren Team der neuronalen Steuerkreise. Im Laufe der Evolution zeigte sich jedoch rasch, dass es einen enormen Überlebensvorteil bietet, wenn man nicht nur selbst weiß, was gut oder gefährlich ist, sondern auch die Eindrücke anderer wahrnehmen kann. So können etwa Fische ihr Verhalten gegenseitig beobachten und abstimmen, sodass sie als Schwarm zusammenbleiben und gemeinsam bei Gefahr abwenden und flüchten können. Das Beobachten der Körpersprache informiert darüber, was andere Individuen derselben Art denken und fühlen. Körpersprache ist die ursprünglichste Form der Kommunikation. Nur wenige Tierarten haben wie wir Menschen einen so differenziert beweglichen Stimmapparat, dass eine detailreiche Kommunikation über Lautäußerungen möglich wird. Obwohl wir Menschen meist akustisch über Sprache kommunizieren, besitzen wir nach wie vor die Fähigkeit der Körpersprache.
Wir verstehen Stummfilme und Pantomimen und entwickeln erstaunliche Talente, wenn wir uns im Ausland verständlich machen müssen, ohne die lokale Sprache zu sprechen. Wir Menschen können untereinander Körpersprache aber nicht nur durch Beobachtung verstehen, sondern auch erfühlen. Unsere Paartänze sind die ritualisierte Übung dieser Fähigkeit – wir Menschen (zumindest manche von uns) finden es interessant und unterhaltsam, gefühlte Körpersprache zu lesen und darauf zu reagieren, also paarweise synchron mit gekoppelten Rumpfbewegungen über das Parkett zu gleiten.
Pferde kommunizieren fast ausschließlich über Körpersprache. Als hoch soziale Wesen können sie sich körpersprachlich nicht nur sehr differenziert ausdrücken (Neugebauer & Neugebauer, 2011), sondern sind auch ausgezeichnete Beobachter von Körpersprache. Wir Menschen können lernen, die Körpersprache von Pferden zu verstehen – Pferde verstehen die menschliche Körpersprache mindestens ebenso gut, wenn sie regelmäßig Umgang mit uns „Aliens“ haben. Pferde können daher lernen, unsere Körpersprache auch dann zu lesen, wenn wir auf ihnen sitzen und sie uns nicht sehen, sondern nur fühlen können. Wenn wir als Reiter in der Lage sind, unsere Rumpfbewegungen so zu kontrollieren, dass sie für das Pferd verständlich werden, gehen Pferde gerne auf das Kommunikationsangebot ein. Das Pferd ist die einzige Tierart, die zusammen mit (manchen) Menschen die Fertigkeit eines Paartanzes entwickelt.
Teamarbeit
Kommunikation über erlernte Signale (etwa Schenkel- oder Zügelhilfen) wird bei Reiter und Pferd über die Großhirnrinde verarbeitet. Dieser Prozess blockiert eine gleichzeitig ablaufende Körperwahrnehmung.
Die neuronale Steuerung bei Säugetieren arbeitet also wie ein Team, in dem jedes Mitglied auf seine Aufgabe spezialisiert ist, dabei aber mit allen anderen in Kontakt steht. Die meisten Tätigkeiten und Sportarten erfordern ein abgestimmtes Handeln aller Teammitglieder. Die größte Schwierigkeit beim Reiten ist die ungewöhnliche Aufgabenverteilung zwischen bewusstem Handeln (Motorcortex), unbewusster Balancesteuerung (Kleinhirn) und Rumpfbewegung (Gangmuster-Schaltzentren). Es gibt durchaus Sportarten, bei denen Menschen Objekte mit ihrer Rumpfbewegung steuern und kontrollieren. Hierzu gehören beispielsweise Fahrrad, Motorrad, Ski, Surfbrett und viele mehr. Bei all diesen Sportarten lernt unser Kleinhirn gemeinsam mit den Gangmuster-Schaltzentren, die Balance auf dem externen Objekt zu halten und es zu kontrollieren. Unsere Rumpfmuskulatur ist dabei nicht nur für die aktive Kontrolle des Sportgerätes verantwortlich, sondern fungiert über die propriozeptiven Neuronen der Gangmuster-Schaltzentren auch als der wichtigste Sensor zum Bewegungszustand. Fahrrad- oder Motorradfahren funktioniert über die Schlängelbewegung unseres Rumpfes! Ein Pferd ist jedoch kein von Menschenhand geschaffenes Sportgerät, das auf vorhersagbare Weise reagiert. Ein Pferd ist ein Lebewesen, mit körperlichen Asymmetrien, Intelligenz und eigenem Willen. Ein Pferd reagiert auf eine Reiterbewegung nicht immer exakt gleich. Ein Sportgerät können wir mit unseren unbewussten Rumpfbewegungen kontrollieren, ein Pferd müssen wir fragen, seine Antwort verstehen und angemessen darauf reagieren. Reiten nur am Sitz bedeutet differenzierte Kommunikation mit Körperteilen, die wir normalerweise nur unbewusst steuern. Über Jahrtausende haben Reitmeister damit gerungen, diesen Vorgang in Worte zu fassen. Keiner der historischen Reitmeister liefert eine vollständige Beschreibung, lediglich Bruchstücke – ähnlich wie in der Fabel von den blinden Weisen, die durch Abtasten eine Vorstellung von einem Elefanten zu erlangen versuchen. Jedes Bruchstück der Wahrnehmung ist zwar in sich richtig, aber das Gesamtbild lässt sich nur mit zusätzlicher Information zusammenfügen.
Die moderne Naturwissenschaft ist heute in der Lage, die Pferdebewegung exakt zu beschreiben, einschließlich der Asymmetrien des Pferdekörpers. Damit steht die Zusatzinformation zur Verfügung, die man benötigt, um die Bruchstücke der Wahrnehmung zusammenzufügen. Wir können heute beschreiben, welchen Bewegungen ein Reiter auf einem Pferd in den verschiedenen Gangarten ausgesetzt ist, was in einer Wendung mit dem Körpergleichgewicht geschieht und wie Geraderichten funktioniert. Mit diesem Wissen ist es möglich, durch Schulung der eigenen Körperwahrnehmung die Fähigkeit zur differenzierten Kommunikation mit dem Reitersitz zu entwickeln. Allerdings existiert eine weitere Hürde auf diesem Weg – der menschliche Verstand ist so organisiert, dass ein Mehr an theoretischem Wissen das Erlernen einer körperlichen Fähigkeit eher behindert. Der Grund hierfür ist die unterschiedliche Spezialisierung der beiden menschlichen Gehirnhälften.
Spiel und Ziel – die unterschiedlichen Begabungen der menschlichen Gehirnhälften
Kinder erlernen die gemeinsame Bewegung mit dem Pferd vor allem deshalb so leicht, weil sie es spielerisch tun, nur im Moment lebend und aus Freude an der Bewegung. Erwachsene dagegen haben in der Regel einen Plan, wie sie mit dem Pferd umgehen wollen. Kinder setzen beim Reiten vorrangig ihre rechte Gehirnhälfte ein, Erwachsene ihre linke.
Auf den ersten Blick sind die beiden Hälften des Gehirns funktionsäquivalent – jede Gehirnhälfte steuert eine Körperhälfte, wobei wegen der Überkreuzung der Nervenbahnen die linke Hirnhälfte die rechte Körperhälfte steuert und umgekehrt. Bei Affen lässt sich jedoch beobachten, dass die linke Hand (gesteuert von der rechten Hirnhälfte) bevorzugt zum Fangen bewegter Objekte genutzt wird, während die rechte Hand (gelenkt von der linken Hirnhälfte) bevorzugt zum Festhalten an einem Objekt dient (Rogers, 2009). Vor etwa 2,5 Millionen Jahren begannen die Vorfahren des Menschen jedoch, sich mehr und mehr im Gebrauch von Werkzeugen zu üben und verwendeten hierzu bevorzugt ihre rechte Hand, denn ein Werkzeug muss man gut festhalten. So trainierten sie gleichzeitig die zugehörige linke Gehirnhälfte für diese Aufgabe. Machen wir uns kurz bewusst, was die Aufgabe „Werkzeuggebrauch“ beinhaltet: Man muss ein Ziel haben, was man mit dem Werkzeug erreichen will, eine Vorstellung, wie das Werkzeug dafür einzusetzen ist, und einen Plan, welche Bewegungen und Handgriffe nacheinander auszuführen sind. Die hoch entwickelte menschliche Intelligenz ist eng verknüpft mit diesem „Begreifen“ und der logischen Aneinanderreihung verschiedener „Begriffe“. Unsere Sprache und unsere schriftliche Überlieferung basieren auf der Abfolge von Begriffen, Zeichen und Symbolen. Sprache wird von unserer linken Hirnhälfte erzeugt. Entsprechend ist unsere linke Gehirnhälfte durch Evolution und ständiges Training hoch spezialisiert, einen Plan zum zielgerichteten Handeln zu entwickeln, zu verstehen und umzusetzen – und diese Erfahrung anderen mitzuteilen.
Die menschliche Intelligenz kommt jedoch durch das Zusammenwirken beider Gehirnhälften zustande. Einen einzigartigen Einblick in deren unterschiedliche Funktionen gibt die Hirnforscherin Jill B. Taylor, die ihren eigenen Schlaganfall überlebte und die damit verbundenen Erfahrungen in einem Buch beschrieben hat (Taylor, Mit einem Schlag, 2008) (Taylor, 2006). Während Blutgerinnsel ihre linke Gehirnhälfte ausschalteten, erlebte sie die Welt aus der Sicht ihrer